Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein

Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters

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Inhaltsverzeichnis:


Zeitmessung

Die äußerste und vielleicht bedeutsamste Umwandlung der Wirklichkeit in Zahlen ist die Messung der Zeit. Uhren machen mit der Zeit, was Namen und Zahlen mit der materiellen Welt machen: sie reduzieren sie, machen sie endlich. Und was ist die Zeit, als das Leben selbst? Zeit ist Erfahrung, Prozess, der Fluss des Seins. Durch die Zeitmessung, durch deren Umwandlung in Zahlen berauben wir sie ihrer Unendlichkeit und Einzigartigkeit auf genau die gleiche Weise, auf die Nomen und Zahlen die physikalische Welt reduzieren. Zeitmessung verwandelt eine Folge einzigartiger Momente in so und soviele Sekunden, Minuten und Stunden und beseitigt so ihre Besonderheit in der subjektiven Erfahrung einer jeden Person.

Die Zeitnahme begann in der Steinzeit mit dem Kalender, um die Pflanzungen zu koordinieren. Da Kalender sich auf natürliche Zyklen der Sonne, des Mondes und der Jahreszeiten stützen, ist ihr Effekt auf die Trennung minimal; so waren die frühen Bauern noch immer fest mit der Natur verbunden. Da die Zeitmessung zyklisch und nicht linear war, hatten die frühen Kalender noch nicht die Auswirkung, die Zeit zu binden, Geschichte zu erschaffen und jemandes Lebensjahre zu zählen. Bald aber wurde es mit der Entstehung von Fernhandel und hierarchischen Staatsformen notwendig, Aufzeichnungen über Jahre hinweg zu machen. In Ägypten, Mesopotamien, Indien, China und Mittelamerika begannen die Menschen, die Jahre zu zählen, z.B. vom Beginn einer Dynastie an, und damit wurde eine Linearität in die Zeit eingeführt, die sie von den Kreisläufen der Natur schied. Die künstliche Aufteilung des Tages in Stunden – eigentümlicherweise benutzten sowohl die Babylonier als auch die alten Chinesen zwölf – und die hebräische Erfindung der Siebentagewoche vertiefte diese Trennung nur noch, die in der Ersetzung der kreisförmigen Uhren durch Digitaluhren gipfelte und damit die letzte verbliebene Verbindung zwischen gemessener Zeit und dem zyklischen Prozess der Natur verwischte.

Die grobe Aufteilung des Tages in Stunden war hinreichend für die Belange der Eisenzeit, aber die Industrie erfordert eine sehr viel präzisere Koordination menschlicher Aktivität. Die Entwicklung mechanischer Uhren in späten Mittelalter bereitete den Boden für die industrielle Revolution. Lewis Mumford formulierte es so: „Die Uhr und nicht die Dampfmaschine ist der zentrale Apparat des Industriezeitalters45.“ Je feiner wir die Zeitmessung aufteilten, zuerst in Stunden, dann Minuten und Sekunden, desto weniger schienen wir davon zu haben und desto mehr mischten sie sich ein und bemächtigen sich unserer Souveränität über das Leben – wir leben bis heute „im Uhrwerk“.

Pünktlich zu sein ist die Pflicht des Sklaven gegenüber seinem Herren oder eines Untertanen gegenüber seinem König. Heute sind wir alle Zeitplänen und Terminen unterworfen, die von den maschinellen Anforderungen der Präzision, der Regularität und der Standardisierung diktiert werden. Wir denken von Maschinen als unsere Diener, aber unser fortwährender Drang, pünktlich zu sein, spricht eine andere Sprache.

Umgeben von linearer Zeitmessung ist es schwer die Kühnheit zu würdigen, die darin liegt, den Tag in Standardeinheiten, menschengemachte Stunden, Minuten und Sekunden aufzuteilen, die absichtlich unverbunden sind mit den natürlichen Prozessen und damit „objektiv“. Die Idee, um mit Thomas Pynchon zu sprechen, dass jede Sekunde von gleicher Länge und unwiderruflich ist, ist nur so alt wie die Uhr46. Oder wie Paul Campos es formuliert: „Bis vor sehr kurzer Zeit gab es so etwas wie 6:17 Uhr nicht47.“

Die Uhr übersetzt die Bewegungen des Himmels in irdische Routine. Zeitmessung beschleunigte die Trennung des Menschen von der Natur grundlegend. Mumford kommentiert:

Durch ihre essentielle Natur löste [die Uhr] die Zeit von menschlichen Ereignissen ab und half, den Glauben an eine unabhängige Welt mathematisch messbarer Sequenzen zu erschaffen: die spezielle Welt der Wissenschaft. Es gibt verhältnismäßig wenig Fundierung für diesen Glauben in der menschlichen Alltagserfahrung: durch das Jahr haben die Tage unterschiedliche Länge, es ändert sich nicht nur fortwährend das Verhältnis zwischen Tag und Nacht, sondern auch die astronomische Zeit um einige Minuten durch eine kleine Reise von Ost nach West. Im Sinne des menschlichen Organismus selbst ist die mechanische Zeit noch fremdartiger: Während das menschliche Leben seine eigenen Regularitäten, wie den Pulsschlag oder die Atmung, aufweist, ändern sich diese von Stunde zu Stunde mit der Stimmung oder Anstrengung, und im längeren Verlauf von Tagen wird die Zeit nicht durch den Kalender gemessen, sondern durch die Ereignisse, die sie begleiten48.

In letzter Konsequenz verwandeln Uhren die Zeit in irgendeinen standardisierten, austauschbaren Teil der Weltmaschine und erleichtern damit die technische Nutzung der Welt. Nur eine solchermaßen entwertete Zeit ist ein denkbares Wirtschaftsobjekt. Wer würde andernfalls seine Momente, deren jeder unendlich wertvoll ist, für eine Entlohnung verkaufen? Wer würde sonst die Zeit, d.h. das Leben, zu bloßem Geld reduzieren? Leibniz unerbittlicher Ausspruch „Zeit ist Geld“ enthält die grundlegende Reduktion der Welt und die Versklavung des Geistes.

Es ist nicht verwunderlich, dass die Revolutionäre der Pariser Julirevolution von 1830 in der Stadt alle Uhren zerschmetterten, deren sie habhaft werden konnten49. Der fundamentale Zweck der Uhren ist nicht die Zeitmessung, sondern die Koordination menschlicher Aktivitäten. Nebenbei ist es reine Fiktion, eine Vorspiegelung. Wie Thoreau sagt: „Zeit misst nichts als sich selbst50.“ Die Zerstörung der Uhren repräsentiert eine Weigerung, die eigene Zeit zu verkaufen, eine Weigerung, das eigene Leben einem Zeitplan zu unterwerfen oder es mit den Erfordernissen der spezialisierten Massengesellschaft in Einklang zu bringen. Desweiteren bedeutet es die Erklärung, dass „ich mein eigenes Leben leben werde“ und begründet damit die Vorherrschaft des Jetzt.

Das verplante und gehetzte Leben ist das Leben des Sklaven, dessen Leben nicht das eigene ist. Eine grundlegende Macht über jemand anders bedeutet, ihn dazu zu verpflichten, auf Verlangen zu erscheinen: „Wenn ich sage, komm, so wirst du kommen!“ Jemandes Zeit zu beherrschen heißt sein Leben zu beherrschen. In der modernen Gesellschaft sind wir chronisch geschäftig, zu geschäftig, um die Dinge zu tun, die wir gern tun möchten, zu geschäftig, um innezuhalten und den Duft der Rosen zu genießen, zu geschäftig, um einmal eine Stunde die Wolken zu beobachten, zu geschäftig, um mit Kindern zu spielen, zu geschäftig, um mehr Zeit mit dem Notwendigen zu verbringen.

Wie John Zerzan treffend beobachtet macht die Uhr „die Zeit knapp und das Leben kurz“; so kommt die zwanghafte Besessenheit von Tempo, Effizienz und Komfort in der modernen technologischen Gesellschaft. Warum würden wir sonst versuchen, unsere Ziele schneller zu erreichen, alles schneller zu machen, alles schneller zu haben, wenn nicht aus dem Glauben, unsere Tage seien gezählt? Die Angst der modernen Gesellschaft entsteht zum großen Teil aus dem Gefühl, es gäbe nicht genug Zeit. „Du musst immer etwas Nutzbringendes machen. Du musst für jede Minute des Tages etwas Produktives vorweisen. Wenn du Nachts schlafen gehst, und du kannst nicht sagen, du hättest wirklich jede Minute deiner Zeit produktiv verbracht, dann ist ein Teil deines Lebens unwiederbringlich vorbeigehuscht. Du hast ihn einfach vergeudet51.“ Alles in allem könnte jeder Augenblick darauf verwendet werden, mehr Kontrolle auf die Welt auszuüben, um die Überlebeschancen und den Komfort zu erhöhen. Vielleicht, nachdem wir die Wahrscheinlichkeit für all dies maximiert haben, können wir uns ein wenig Freizeit, Spiel, Erholung leisten. Leisten? Das ist doch eine finanzielle Redeweise, nicht wahr? Zeit ist Geld.

Freizeit bedeutete ursprünglich, sich nicht unter den Zwängen der Zeit zu befinden; heute planen wir die Freizeit ein, wie alles andere auch, und die Freiheit, am Wegesrand zu verweilen, bis wir bereit und fertig zum Aufbruch sind, erscheint als seltener Luxus. Unsere Freizeit ist eher verwandt mit dem Freigang eines Gefängnisinsassen. Wir haben die Hoheit über unsere eigene Zeit verloren.

Der Takt des modernen Lebens beschleunigt sich fortwährend. Im Handel gibt es „just-in-time“- Lagerverwaltung, „unverzügliche Kommunikationswege“ und „Warenumschlag am selben Tag“. Wir verplanen unsere Tage immer fester mitunter minutengenau, auch weiten wir das Regime weiter und weiter in die Kindheit aus, beginnend mit der Formulierung von Krankenhausplänen für das Neugeborene. „Zeitmanagement“ und „Multitasking“ sind grundlegende Fähigkeiten geworden, um mit der anbrandenden Flut des modernen Lebens zurecht zu kommen. Sie sind zusammen mit solchen Geräten wie dem Mobiltelefon und dem portablen digitalen Assistenten technologische Lösungen, die immer mehr Kontrolle anwenden, um die Probleme, die aus der Kontrolle erwachsen, in Schach zu halten.

So wie das Erwachsenenleben zum ewig sich beschleunigenden Rhythmus der Maschine marschiert, sind auch die endlosen Nachmittage der Kindheit den verplanten Einengungen der Schule und anderer organisierter Aktivitäten gewichen. Die Kinder sind zu beschäftigt, um zu spielen.

Bedenke noch einmal die Tragödie der Feststellung, lasse es in deinem Herzen widerhallen: Kinder sind zu beschäftigt, um zu spielen. Der Grund liegt wieder in der Überlebensangst. Spiel ist frivoler Luxus, der den Lücken in einem Terminplan produktiver, erzieherischer und entwickelnder Aktivitäten vorbehalten ist. Die wettbewerbsorientierten Anforderungen des Erwachsenen diktieren heute, das keine Zeit verschwendet werde, weil jeder mit Spiel verbrachte Moment ein Moment ist, in welchem dein Kind vorankommen könnte, um sich auf die Zukunft vorzubereiten. Letzten Endes ist das Spiel des Erwachsenen begrenzt auf die „Freizeit“, und die Kindheit ist eine Vorbereitung auf das Erwachsenenleben, nicht wahr? Deshalb versuchen wir, in unseren Kindern gute „Lerngewohnheiten“ und eine starke Arbeitsethik anzulegen und einen Sinn für Verantwortlichkeit, damit sie nicht lernen, Spiel, Vergnügen und Freunde vornan zu stellen. Was würden sie sonst für Erwachsene werden? Vielleicht ein undisziplinierter Erwachsener, der keinen Beruf von neun bis fünf ausüben kann und der nur wenig Geduld hat mit langweiliger, erniedrigender und unangenehmer Arbeit – die Art von Arbeit, die der größte Teil der Bevölkerung als trostlose Notwendigkeit akzeptiert. Deshalb kommt zuerst die Schule, dann die Hausaufgaben, dann die Klavierübungen und dann Fußball in der Zwergenliga. Und dann, wenn noch Zeit bleibt, können sie spielen.

Vor einigen Jahren habe ich bemerkt, dass, wenn immer ich gegen meine Kinder lauter wurde, für gewöhnlich Zeitdruck dafür die Ursache war. So mussten wir zum Beispiel irgendwo zu einer bestimmten Zeit sein, und sie haben nicht kooperiert. Öfter aber war es kein bestimmter verpflichtender Termin, sondern ein unspezifisches Gefühl der Angst, die Zeit sei zu kurz, man müsse zur nächsten Tätigkeit übergehen. Zeitknappheit wird zur Denkgewohnheit, einer Wesensart.

Um spontane und ungehemmte Kinder zu zwingen, den erwachsenen Terminplänen zu gehorchen, braucht man genau das: Zwang. Meine Kinder widersetzen sich Terminen. Was immer sie tun wollten, sie wollten es jetzt tun und zwar so lange, wie es braucht. Wenn wir nie in Eile wären, würden wir nie unsere Geduld verlieren. Heute, da ich die Einsichten aus diesem Buch in mein eigenes Leben zu integrieren versuche und da ich die Fesseln der Zeit lockere, bemerke ich, dass ich meine Kinder kaum noch anschreie oder meine Geduld mit ihnen verliere, nicht weil ich eine heilige Person geworden wäre, sondern einfach, weil es keinen Grund mehr dafür gibt. Lasse sie sich soviel Zeit nehmen, wie sie wollen. Okay Matthew, spiel ruhig weiter mit deinen Socken, statt sie anzuziehen. Wieso sollte ich einen kleinen Jungen nicht mit seinen Socken spielen lassen? Doch nur, wenn wir wieder „zu spät dran“ sind – ein Dauerzustand in der modernen Gesellschaft. Immer sitzt uns die nächste Verpflichtung im Nacken und hindert uns daran, Dinge mit voller Hingabe zu tun. Die fortwährende Unterbrechung im natürlichen Rhythmus des kindlichen Spiels, das sich jeden einzelnen Moment aus den Lücken des von Erwachsenen auferlegten Zeitplans stehlen muss, dressiert uns für ein Erwachsenenleben heimlicher und hastiger Freuden.

Wie schon im Eröffnungskapitel erwähnt, ist die endemische Geschäftigkeit des modernen Lebens eine ihrer definierenden Eigenschaften und sicherlich keine zwischenzeitliche Verirrung, die mit der nächsten Generation künftiger „arbeitssparender“ Geräte abgeschafft werden wird. Beschäftigt zu sein, heißt unfrei sein; es bedeutet, dass die eigene Zeit Zwängen unterworfen ist. Es bedeutet, Prioritäten der Notwendigkeit unterworfen zu sein. Es ist das natürliche Ergebnis einer Kindererziehung, die unsere Leben an das Joch einer allgegenwärtigen Bedrohung von Entzug bindet – einem Entzug von Zuneigung, Zustimmung oder selbst physischem Komfort. Wir sind als Erwachsene tief gegen das Spielen konditioniert.

Wenn wir sagen, wir seien zu beschäftigt, was meinen wir damit? Wir meinen, dass wir andere Dinge zu tun haben, Prioritäten, die vom Überleben diktiert werden; wir meinen, dass wir nicht die Freiheit haben, das zu tun, was wir wollen. „Es wäre einfach nicht praktisch“, glauben wir, „das Vergnügen vor die Arbeit zu setzen.“ Wir malen uns aus, unsere Arbeitsstelle zu verlieren, bankrott zu gehen oder auf der Straße zu enden. Dass das Vergnügen tatsächlich produktiv sein kann, ohne es bewusst auf die Produktivität hin auszurichten, kommt uns nur selten in den Sinn, und wenn es uns in den Sinn kommt, so glauben wir, es sei nur wenigen Glücklichen, wie Künstlern oder Genies, vorbehalten, die es schaffen, das zu tun, was sie lieben. Aber in Wahrheit ist die Logik genau umgekehrt. Genie ist das Ergebnis davon, zu tun, was man liebt, und nicht dessen Voraussetzung. Das Problem ist natürlich herauszufinden, was das sein könnte. Dafür ist eingentlich die Kindheit gedacht, aber unsere Kultur hat es in sein Gegenteil verkehrt. Wenn wir so vollständig gebrochen sind, dass wir nicht mehr wissen, was wir lieben, ist der einzige Ausweg, zuerst einmal aufzuhören mit dem, was man nicht liebt und für eine Weile nichts zu tun. Das ist die Botschaft aus der biblischen Geschichte des Auszugs aus Ägypten, in der die Kinder Israels, nachdem sie aus der Sklaverei geflohen waren, vierzig Jahre durch die Wüste wandern mussten, bevor sie das Land von Milch und Honig fanden. Auf gleiche Weise müssen wir die Diktatur der Geschäftigkeit überwinden und uns selbst erlauben, für eine Zeit zu wandern, um unser Glück zu entdecken.

Die tiefste Ironie des Ganzen und der schwerwiegendste Hinweis unserer Dienstbarkeit kann man an unserer Abneigung vor längeren Abschnitten leerer Zeit ablesen. Den wahren Sklaven hat man dazu gebracht, Angst vor der Freiheit zu haben. Deshalb füllen wir unsere leeren Momente mit „Zeitvertreib“; wir möchten „unterhalten“ werden; das heißt, wir wollen von uns selbst weggeführt werden. Die zugrundeliegende Angst des modernen Lebens hat uns unserer Momente beraubt und uns an unaufhörliche Tätigkeit gebunden.

Die Messung der Zeit, speziell ihre lineare Messung, führt unter anderem zum Konzept einer abstrakten Zukunft, einer weiteren grundlegenden Quelle für Angst und Unsicherheit. Es gibt immer etwas, auf das man sich vorbereiten muss, es gibt immer einen Grund, sich nur unvollständig mit dem Jetzt zu beschäftigen. Wenn wir die Gegenwart an die Zukunft verpfänden, ist es für gewöhnlich im Interesse derselben praktischen Erwägungen, die wir wachrufen, wenn wir uns etwas „nicht leisten können“. Vergleiche unsere Überlebensangst mit Marshal Sahlins Beschreibung der Jäger und Sammler:

Ein ernsteres Thema äußert sich in der häufigen verärgerten Beobachtung eines gewissen „Fehlens der Voraussicht“ unter Jägern und Sammlern. Immer nur an der Gegenwart orientiert, ohne den leisesten Gedanken an oder Sorge um das, was das Morgen bringen wird, scheint der Jäger nicht Willens zu sein, Vorräte zu halten, unfähig einer geplanten Antwort auf das Verhängnis, das ihn sicherlich erwartet. Er nimmt stattdessen die Haltung einer erlernten Unbetroffenheit ein ...52

In Sahlins „ursprünglicher, wohlhabender Gesellschaft“, in der die Natur alles in einfachem Überfluss bereitstellt, gibt es keine Notwendigkeit, für die Zukunft zu planen. In einer bäuerischen Gesellschaft kann allerdings eine solche Nonchalance fatal sein, weshalb sie durch eine zeitgebundene Mentalität des Säens und Erntens ersetzt wurde, die noch immer den modernen Geist beherrscht. Wir können immer etwas tun, um unserem rationalen Eigeninteresse zu dienen, unsere Position in der Welt zu verbessern und unsere zukünftige Sicherheit zu erhöhen. Die Dinge sind niemals in Ordnung, so wie sie sind, wenn das Leben im Grunde ein Überlebenskampf ist. Auf diese Weise wird die Gegenwart zum Sklaven der Zukunft. Das ist die definierende Mentalität der Agrikultur, in welcher die Arbeit von heute die Ernte von morgen erbringt. Würde die Arbeit im ewig währenden Jetzt je das Spiel verdrängen?

Ein ähnliches Phänomen erhalten wir auf einer kollektiven Ebene: Ohne die Abstraktionen von Zukunft und Vergangenheit gäbe es so etwas wie Fortschritt nicht. Und umgekehrt gäbe es ohne den Fortschritt nur wenig Verwendung für Zeit. Die Anhäufung von Kultur und Technologie definiert einen Zeitstrahl durch die Referenz aus einfacheren Tage. Zu Beginn dieses exponentiellen Aufstiegs, als sich Veränderungen nur langsam vollzogen, existierte nur ein sehr rudimentäres Bewusstsein von Zeit. Als die Veränderungen weiter aufeinander aufbauten, kristallisierte sich auch das Gewahrsein über Zeit.

Die Zeit ist keine Erfindung, die hätte zurückgewiesen werden können, wenn wir nur weiser gewesen wären. Es war vielmehr ein unausweichliches Produkt des Voranschreitens von Sprache, Zahl und Technologie, von denen jedes wechselseitig aufeinander aufbaute. Die geschriebene Sprache zum Beispiel, die ursprünglich zur Aufzeichnung verwendet wurde, erlaubte die lineare Bindung der Zeit und die Konzeption der Geschichte, da Worte nicht länger auf den Moment beschränkt waren.

Weil sie unauflöslich mit Geschwindigkeit, Komfort, Effizienz und Fortschritt verknüpft ist, hat die Technologie, wie wir sie kennen, ihre Wurzeln in der vergegenständlichten, linearen Zeit. Dies lädt zu der Frage ein, ob denn irgendeine andere Konzeption der Technologie möglich ist. Es ist schwer vorstellbar. Es scheint so, als würde jede Technologie, die auf sich selbst aufbaut und dadurch den Fortschritt definiert deshalb auch die lineare Zeit definieren. Allerdings braucht Fortschritt nicht notwendigerweise unnatürlich oder zerstörerisch zu sein. Immerhin hat sich das Leben über Milliarden von Jahren in Formen wachsender Komplexität entwickelt, nur um in den letzten paar Tausend Jahren in eine Krise zu münden. Dies legt eine andere Art von Technologie nahe, die ausdrücklich versucht, die Muster der Natur zu entdecken und mit ihnen zu harmonieren. Eine solche Technologie hat tatsächlich einen Vorläufer in den magischen Handlungen primitiver Völker, die, in Zerzans Worten, „die Regularität und nicht die Ersetzung der Naturprozesse“ suchten. Post-technologische Technologie, wenn ich einen solchen Ausdruck verwenden darf, wird als ihr Modell die Kreisläufe der Natur und insbesondere die „magischen“ Praktiken der Urvölker nehmen. Sie wird Einstimmung und nicht Eroberung anstreben, und sie wird sich nicht mit Kontrolle, sondern mit Schönheit befassen. Diese Art der Technologie, die ich später beschreiben werde, wird überhaupt keine Trennung von der Natur sein, sondern vielmehr eine organische Erweiterung der Natur, die uns zurückführt zu einem zeitlosen Leben, in welchem die lineare Zeitmessung nicht mehr ist als ein Spielzeug.

45 Mumford, Lewis, Technics and Civilization , Harcourt, Brace & Co. 1963, S. 14; zitiert von Zerzan, S. 23

46 Pynchon, Thomas, „Nearer, my Couch, to Thee,“ New York Times Book Review, 6. Juni 1993.

47 Campos, Paul F., Jurismania: The Madness of American Law, Oxford University Press, 1998. S. 32

48 Mumford, Technics and Civilization, S. 15

49 Zerzan, S. 24

50 Thoreau, S. 255

51 Greenberg, Daniel, ‘”When does a Person Make Good Use of His Time?“ The Sudbury Valley School Experience, Hrsg. Mimsy Sadofsky und Daniel Greenberg, Sudbury Valley School Press, 1992. S. 105.

52 Marshal Sahlins, The Original Affluent Society.Ëin Exzerpt aus Steinzeitökonomie.

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1998-2011 Charles Eisenstein