Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein

Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters

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Inhaltsverzeichnis:


Religion und Ritual

Ein Ritual, wie wir es heute verstehen, verwendet Symbolismen, in denen Repräsentationen von Objekten für reale Objekte und rituelle Wiederholungen von Abläufen für reale Ereignisse stehen. Allerdings entwickelte sich das symbolische Ritual, wie Sprache und Kunst, allmählich von einer Zeit vor der Trennung, als Symbol und Objekt noch dasselbe waren. Sehr wahrscheinlich waren die vorgeschichtlichen Rituale ein Auswuchs tierischer Rituale der Paarung, Dominanz und so weiter, und waren nicht symbolisch, oder zumindest nicht symbolischer als der Gesang der Vögel.

Rituale wurden erst symbolisch, als der Geist vom Physischen abstrahiert wurde. Das geschah erst, als das Göttliche von der Natur getrennt wurde, und das wiederum geschah erst, als Technologie und Kultur ein getrenntes menschliches Reich schufen, vor allem als die Agrikultur die Natur in eine gegnerische Rolle drängte. Weil wir dualistische Scheuklappen tragen, ist für uns irgendein nichtsymbolisches Ritual nur schwer vorstellbar, ein Ritual, dass das Tatsächliche ist und nicht die Repräsentation einer Geschichte, eines Prinzips oder Ereignisses. Wir sind so gewöhnt daran zu fragen, was es bedeutet, was es symbolisiert, dass wir nur schwer begreifen können, dass die angemessene Frage sein könnte, was es ist. Wir können uns kaum vorstellen, etwas zu verstehen, ohne dass wir eine weitere Interpretationsebene zwischen uns und es schieben.

Das symbolische religiöse Ritual ist selbst eine Vermittlung zwischen zwei getrennt aufgefassten Bereichen – dem menschlichen und dem göttlichen. In der ursprünglichen Religion, dem Animismus, gab es diese Trennung nicht. Oft missverstanden als der Glaube, alles besäße Geist, bedeutet Animismus, dass alles Geist ist, dass alles empfindungsfähig, heilig und speziell ist. Deshalb ist die in der Sprache und Zählung verkörperte Abstraktion des Bestimmten aus animistischer Sicht ein Sakrileg, weil ein Kontinuum einzigartiger Orte und Momente in soundsoviele Dinge verwandelt wird. Wahrscheinlich sind selbst die reinsten animistischen Religionen, die von Anthropologen untersucht werden, schon verwässerte Versionen des wahren Animismus, da sie in Kulturen existieren, die schon referenzielle Sprache angenommen haben.

Wir schauen auf die Sitte der Neanderthaler, mit der sie ihre Toten samt Artefakten begruben, als Zeichen ihrer kognitiven und sprituellen Entwicklung, belegt es doch einen Glauben an ein Leben nach dem Tode und deshalb ein Konzept von Seele getrennt vom Körper. Ich weiß nicht, ob die Neanderthaler schon eine dualistische Religion hatten, aber die obige Interpretation offenbart ein tiefes kulturelles Vorurteil: dass Dinge des Geistes sich in einem Bereich befinden, der getrennt ist vom Leben in dieser Welt, getrennt vom Hier und Jetzt. Was, so mögen wir fragen, ist die Religion der Tiere? Religion, was wörtlich bedeutet „das, was sich rückbezieht“ oder „das, was uns rückbindet“, ist nur notwendig, wenn es die Trennung gibt. Ein Wesen, das fortwährend in Berührung ist mit der Fülle, Pracht und der tatsächlichen Unendlichkeit der bloßen Existenz, bräuchte keine Religion. Wir können deshalb die Religion als Symptom der Trennung ansehen.

Aber das bedeutet nicht, dass Religion ein Fehler ist! Mehr als ein Symptom der Trennung ist die Religion eine Antwort darauf, eine Manifestation eines grundlegenden Bedürfnisses, sich mit allem, wovon wir uns abgetrennt haben, wiederzuvereinigen. Vielleicht nahm Religion ihren Ursprung als ein Ruf zurück zu einer früheren Zeit der Ganzheit.

Lasst uns die „frühere Zeit der Ganzheit“ besuchen, um zu sehen, wie sich Religion entwickelt haben mag. Eine Annahme, die in der Paläontologie selten hinterfragt wird, ist die, dass frühere Menschenarten dem modernen Homo sapiens in wichtigen Bereichen unterlegen waren. Die Beweislage scheint erdrückend: nicht nur das Aussterben aller anderen Arten von Homo, sondern auch ihre viel einfacheren Werkzeuge, die nur geringen Anzeichen von Kunst, Religion und all den anderen Errungenschaften der modernen Intelligenz.

Wir müssen allerdings vorsichtig sein, unsere heutigen Vorurteile auf die physischen Beweise der Paläontologie und Archäologie zu projizieren. Wir neigen dazu, die Totenbestattung als Beweis für den Glauben an ein Leben nach dem Tode und damit an eine unsterbliche Seele, und Höhlenmalereien als Beweis für magisch-religiöse Rituale mit dem Zweck, Ereignisse zu kontrollieren, und technologische Fortschritte als durch den Überlebenskampf motiviert zu interpretieren. All diese Interpretationen mögen bloß Projektionen unseres eigenen Dualismus und Angst sein. Darüber hinaus hängt die Tendenz, die Entwicklung von Sprache, Technologie und so weiter mit „Fortschritt“ in Kultur und Denken gleichzusetzen, von der Annahme der Überlegenheit unserer eigenen Kultur ab. Im Lichte der oben behandelten negativen Auswirkungen von Sprache, Zahl, Werkzeug, Agrikultur und Zeitmessung allerdings wäre es angebracht, die angenommene Unterlegenheit derer, die sie ablehnten, zu überdenken.

Neue Belege, wie sie in Stephen Oppenheimers Buch „Out of Eden“ rigoros umrissen werden, erschütterten den Mythos, das moderne menschliche Denken habe sich in einer genetisch getriebenen, europäischen kulturellen Explosion vor 30.000 oder 40.000 Jahren entwickelt. Die bedeutsamsten Entwicklungen in der Steinwerkzeugtechnologie vollzog sich vor etwa 300.000 Jahren mit den Klingenwerkzeugen, die von speziell vorbereiteten Steinbrocken abgeschlagen wurden – „ein mehrstufiger Prozess, der erfordert, dass sich das endgültige Produkt während der gesamten Herstellung vor dem geistigen Auge des Erzeugers befindet81“ Neanderthaler und ihre Cro-Magnon-Verwandten hatten fast dieselbe Technologie bis etwa vor 50.000 Jahren.

Das Verschwinden der europäischen Neanderthaler ist sowas wie ein paläontologisches Rätsel, vor allem, wenn man bedenkt, dass neuere Belege gegen eine genetische Vermischung sprechen zwischen Neanderthalern und den Cro-Magnon-Menschen, die Europa vor etwa 40.000 bis 28.000 Jahren gemeinsam bewohnten. Das übliche Denken vom Überleben des Stärkeren unter Mangel nimmt an, dass entweder letztere die ersten dank überlegener Waffen, Intelligenz und sozialer Organisation direkt ausrotteten, oder dass sie einfach den Wettbewerb um das Habitat gewannen. Wie dem auch sei, ein dramatischer kultureller Unterschied trennte die beiden Arten mit zunehmender Geschwindigkeit, beginnend etwa vor 40.000 Jahren, was offensichtlich zum Aussterben der Neanderthaler vor 28.000 Jahren führte.

Auch wenn einige Ausnahmen behauptet werden, so denkt man im allgemeinen, dass die Neanderthaler weder Kunst, noch Handel, weder Knochen-, Muschel- und Hornwerkzeuge noch Bestattungsrituale hatten. Neanderthaler Primitivismus wird gewöhnlich auf zwei Arten interpretiert: (1) als Beleg für die mangelnde Intelligenz, um die Technologien der modernen Menschen zu entwickeln, oder (2) als Beweis für das kumulative Wesen der Kultur, d.h. die Neanderthaler waren so intelligent wie wir, aber ihre Technologie hatte einfach nicht genug Zeit, sich zu entwickeln. Die erste Ansicht wir zunehmend unhaltbar, wenn man die parallele Entwicklung der Steinzeittechnologie bis vor 50.000 Jahren betrachtet, ganz zu schweigen von ihrem etwas größeren Hirnvolumen. Wie auch immer, sie erlitten offensichtlich das gleiche Schicksal, wie die meisten Eingeborenenvölker dieser Welt, nachdem sie mit technologisch fortgeschritteneren Kulturen in Berührung kamen. Eine dritte Möglichkeit wird nur selten diskutiert: dass die Neanderthaler jene Innovationen bewusst ablehnten, die zu unserer sich ausweitenden Trennung von der Natur führten.

Es wäre nicht das erste Mal, dass eine solche Zurückweisung geschah. Die jüngere Geschichte der Technologie ist nicht ohne Beispiele für die Ablehnung oder gar Aufgabe von Technologie. Vielleicht hatten die Neanderthaler die anatomische und kognitive Möglichkeit, beim sich beschleunigenden Aufstieg der Menschheit fortzuschreiten, lehnten dies aber einfach ab. Vielleicht lehnten sie die trennenden, entfremdenden Technologien der semiotischen Sprache, der Zahl, der Kunst, der Zeit und der standardisierten Werkzeuge82 ab, weil sie, wie Schamanen und Mystiker seit ehedem, ahnten, dass sie uns von der Natur, dem Geist und der Freude trennen. Vielleicht erkannten sie das götzenhafte, das den repräsentierenden Bildern innewohnt, die Reduktion, die der symbolischen Sprache anhaftet und das Leiden, das mit der Trennung des Selbst von der Umwelt verbunden ist. Vielleicht dachten sie, die Trennung sei schon weit genug fortgeschritten und wussten, dass ihr fortgesetzter Aufstieg nur zu Einem führen konnte.

Nimm einmal die Ausrottungen der Megafauna der nördlichen Hemisphäre. Es ist erstaunlich, wie kurz sie zurückliegen. Sie geschahen, nachdem die Neanderthaler verschwunden waren und die modernen Menschen sich voll etabliert hatten, und sie werden üblicherweise unserer überlegenen Technologie und folglich unserer überlegenen Intelligenz zugeschrieben. Halte einen Augenblick inne, um es auf der Zunge zergehen zu lassen – schwerwiegende Störungen des Ökosystems werden als Zeichen überlegener Intelligenz angesehen! Wir nehmen an, es liege in der menschlichen Natur, soviel als möglich zu nehmen. Lassen wir diese Annahme für einen Augenblick beiseite und nehmen stattdessen an, dass die Neanderthaler und andere vormoderne Menschen die Intelligenz, nicht aber den Wunsch hatten. Vielleicht hatten sie die Weisheit, Praktiken zu vermeiden, die das Gleichgewicht der Natur stören würden. Spätere, von der Natur entferntere Kulturen verstanden aber immer noch die Wichtigkeit, diese schwindende Verbindung aufrecht zu erhalten. Sie verwendeten das religiöse Ritual und Magie, um sie zu bestärken und zu erneuern. Sie verließen sich dabei auf eine alte Linie von Schamanen und Geschichten, die auf ihre ursprünglichen Lehrer zurückgingen, aus einer Zeit, da die Harmonie mit der Natur diese künstlichen Mittel der Rückbindung noch nicht erforderte. Diese Idee findet Rückhalt in bestimmten eingeborenen Mythen und Legenden. Ein besonders augenfälliges Beispiel hierfür verdanken wir Joseph Epes Brown:

Die Yurok des nördlichen Kalifornien glauben, dass die Welt am Anfang von den Wo’gey, oder Unsterblichen bewohnt war, die wussten, wie man in Harmonie mit der Erde lebt. Die Wo’gey verschwanden, als die Menschen kamen. Da sie aber wussten, dass die Menschen nicht immer den Gesetzen der Welt folgten, lehrten sie sie, wie man Zeremonien durchführt, die das Gleichgewicht der Erde wiederherstellen konnten83.

Die Übereinstimmung zwischen dem tatsächlichen Verschwinden der Neanderthaler und anderer Menschenarten mit der Ankunft des Homo sapiens ist hier sehr bemerkenswert. Die Wo’gey verschwanden, als die Menschen kamen. Mit 40.000 bis 28.000 vor Christus war die Überlappungszeit in Europa von Neanderthalern und modernen Menschen sehr kurz; der Rückzug der ersteren nach der Ankunft der letzteren war fast unverzüglich. Nirgends haben die beiden für sehr lange Zeit koexistiert. Die Geschichte mag die gleiche gewesen sein mit anderen Menschengattungen in ganz Asien.

Vielleicht waren die Neanderthaler und die anderen Menschengruppen, die unsere Ahnen ersetzt haben, nicht weniger menschlich, niedriger auf der evolutionären Leiter, sondern tatsächlich höher entwickelt im Geiste und Gedanken, als wir es sind. Ich möchte gern spekulieren, dass sie sogar unsere Lehrer waren, Vorbilder für eine Art des Seins, die wir schon vor 40.000 Jahren zu vergessen begannen, aber bis auf den heutigen Tag verschlüsselt in Mythen und Ritualen fortgetragen wurde, fragmentarisch bewahrt durch Traditionen von Schamanen, Sufis, Geschichtenerzählern, Taoisten, Yogis und Mystikern, und von Zeit zu Zeit wiederbelebt durch Poeten, Künstler und Liebende, so dass sie wie eine Spore oder ein Samen wieder erblühen kann, sobald das Zeitalter der Trennung seinen Ausgang genommen hat.

Als die Trennung sich durch den Aufstieg der Agrikultur beschleunigte, weitete sich auch die Lücke, über die uns die Religion „rückbinden“ sollte. Die Menschen entfernten sich weiter von „den Gesetzen der Welt“, und die alten Zeremonien wurden wirkungslos bei der Wiederherstellung des Gleichgewichts. Ganz allmählich verlor die Natur in den Augen der Menschen ihre innewohnende Göttlichkeit und wurde mehr und mehr zu einem bloßen Ding. Sicherlich war das Natur-als-Ding niemals mehr als eine Ideologie, und eine Idelogie, die von der direkten Erfahrung unweigerlich widerlegt wird, sobald wir uns ihr öffnen. Nichtsdestoweniger war und ist diese Ideologie mächtig genug, um einen Jahrtausende währenden Kurs der Dominanz und Zerstörung, der Unterordnung und Eroberung der Natur zu orchestrieren. Wie im vorigen Abschnitt beschrieben nahm die Agrikultur den Göttern ihre Identität als Naturgewalten und gab ihnen die Herrschaft über diese; parallel zur menschlichen Abstraktion unser selbst von der Natur. Waren die altertümlichen Könige und Pharaos noch göttlich, wurden die Könige, beginnend im Mesopotamien des zweiten vorchristlichen Jahrtausends, zu göttlichen Gesandten oder Repräsentanten des Göttlichen, welches nun in einen himmlischen Bereich erhoben war.

Die Verbindung des Göttlichen mit dem Himmlischen – was Gott aus der Natur erhebt in einen Status über der Natur – ist selbst eine weitere Folge der Agrikultur und des Maschinendenkens. Altertümliche Astronomen, beschäftigt mit der Zeitmessung und der Herstellung von Kalendern, beobachteten Regelmäßigkeiten in den Bewegungen der Planeten, unpersönlichen Zyklen also, die ausgenommen waren von der chaotischen Unregelmäßigkeit der Natur. Was würde der Ingenieur, der Konstrukteur und Betreiber einer Maschine bevorzugen? Ein höheres, perfektes Gesetz, so dachte man, regiert den Himmel. Diese Spaltung zwischen Ordnung und Perfektion des Himmels und dem ungeordneten Chaos der lebenden Erde wurde erst im siebzehnten Jahrhundert von Isaac Newtons Vereinigung aller Bewegung unter einem einzigen Gesetz aufgelöst, was zur Folge hatte, dass man Gott noch weiter abstrahierte.

Zur Göttlichkeit passte ein nicht-irdischer Status und die Menschen, die letztendlich von dieser Erde waren, verloren ihre eingeborene Göttlichkeit, um bloße Sklaven Gottes zu werden. Um 2000 vor Christus „kamen mesopotamische Mythen auf von Menschen, die von Gott als seine Sklaven erschaffen wurden. Die Menschen waren zu bloßen Sklaven geworden, die Götter zu absoluten Herrschern. Der Mensch war nicht länger und in keinem Sinne eine Inkarnation göttlichen Lebens, sondern von gänzlich anderer Natur, einer irdischen, sterblichen Natur. Und die Erde selbst war nun Lehm. Materie und Geist hatten sich zu trennen begonnen84.“ Entsprechend finden wir in der Jüdischen, Christlichen und Islamischen Religion, welche in dieser Gegend entstanden, ein Konzept der Sünde gegen Gott, das vollkommen unabhängig ist von der Verletzung der Naturordnung oder Naturharmonie. Und nicht nur unabhängig, sondern oft direkt entgegengesetzt. Spiritualität bedeutete nun, das Fleisch, dessen Begierden der Erhebung des Geistes entgegenstanden, zu bezwingen. Die Parallele zur Technologie und dem „Aufstieg“ der Menschheit liegt auf der Hand. Das technologische Unternehmen der Zivilisation, die Natur mit der Ordnung und Regularität der Maschine zu überwinden, überträgt sich in die Religion als Programm zur Überwindung unserer unbändigen inneren Natur, der „menschlichen Natur“.

Religiöse Institutionen begannen damit, das genaue Gegenteil von dem zu repräsentieren, was die ursprünglichen Riten, Mythen und Lehren anstrebten. Der ursprüngliche Zweck der Religion, der in der Yurok Legende mitschwingt, ist es, uns in den Zustand der Harmonie mit der natürlichen Ordnung und im besonderen mit unserem natürlichen Selbst, unserem wahren Sein zurückzubringen. Trotz der unablässigen Versuche sozialer Institutionen, Religion für ihre Zwecke der Kontrolle zu vereinnahmen, lebt die ursprüngliche Intention und Botschaft der Religion fort, oft verschüttet unter Schichten von Dogmen und Interpretation. Gelegentlich schauen Reformer durch die Dogmen und erinnern uns an die Prinzipien der Originalreligion, des Animismus. Beispiele sind George Fox: „Schaue auf das Göttliche in allen.“, Hallaj: „Ich und der Geliebte sind eins.“, Jesus: „Ich und der Vater sind eins.“ Die letzteren wurden beide gekreuzigt, und der erste lediglich geschlagen, an den Pranger gestellt und eingekerkert; alle verneinten die herrschende Doktrin, das Menschliche und Göttliche seien getrennte Bereiche. In Jesus“ Fall wurde die Lehre fast sofort in ihr genaues Gegenteil verkehrt: „Ich bin Gott und so auch du“ wurde zu „Jesus ist Gott und du nicht“, und damit wurde eben jene Trennung und Dualität, gegen die Jesus lehrte, restauriert.

In fernöstlichen Religionen ist der Dualismus zwischen dem Menschlichen und Göttlichen weniger entwickelt, und viele gegenteilige Lehren sind in den Schriften bewahrt. Vor allem der Taoismus betont die Identität des spirituellen Wegs mit dem Weg der Natur. Der Buddhismus ist voll von Ermahnungen, dass Buddhas nicht verschieden sind von gewöhnlichen Menschen (allerdings vollkommen verschieden), und dass alles Buddhanatur hat. Im Zen gibt es sogar Koans, die auf die Dekonstruktion des Dualismus abzielen, der in der folgenden Aussage enthalten ist: „Alles hat Buddhanatur“, als wäre es ein getrenntes Etwas, das man „haben“ könnte. Ähnliches gilt für den Hinduismus: die Bhagavad Gita behauptet, „Das höhere Selbst, welches in allen Körpern weilt, kann niemals vernichtet werden ... Ewig, universell, unveränderlich, unbeweglich ist das Selbst für immer dasselbe.“ Die extremere Getrenntheit vom Heiligen, die von den abendländischen Religionen verkörpert wird, passt zu derselben Denkungsart der Objektivierung und Kontrolle, die auch die Technologie auszeichnet. Vielleicht ist es kein Zufall, dass die moderne Technologie ebenfalls im Westen aufkam.

Die Pervertierung der Religion (Rückbindung) in ihr Gegenteil hat über den Erdball unterschiedliche Formen angenommen. Im Osten wurden Konzepte wie Karma zur Pflicht pervertiert, und die kosmische Ordnung in blinden Gehorsam gegenüber der zeitlichen Ordnung in einer feudalen Gesellschaft. Das Ergebnis in Indien war das Kastensystem, welches die Rolle eines jeden Individuums detailliert vorschreibt. In ähnlicher Weise wurde die Doktrin von der Illusion eines endlichen Selbst vereinnahmt, um zur Unterordnung des individuellen Willens unter die soziale Masse zu ermutigen. Im fernen Osten degenerierte das Tao von einem Prinzip der in die Natur und das Universum eingewobenen organischen Göttlichkeit zu einer Legitimierung für eine starre soziale Hierarchie.

Währenddessen ging im Westen die Differenzierung von Natur und Göttlichem einen Schritt weiter. Die altertümlichen Götter Griechenlands und der Gott der Levante fingen an als Namen für die Aspekte der Natur, sie wandelten sich zu getrennten Repräsentanten dieser Aspekte, und schließlich nahmen sie Positionen als launenhafte Herrscher ein. Sie wurden zu Herrschern statt zu Aspekten der Natur. „Während in der älteren Sicht ... Gott einfach eine Art kosmischer Bürokrat ist, und die großen natürlichen Gesetze des Universums all das festlegen, was er ist, tut und tun muss, haben wir jetzt einen Gott, der selbst bestimmt, welche Gesetze gelten; er sagt: „Es geschehe dieses oder jenes!“ und es geschieht.85“ Die Parallele zur Mentalität der Technologie ist offensichtlich. Gott hing nicht länger von der Gnade der Natur ab; durch das Verständnis der Prinzipien von Gottes Schöpfung hängt also auch der Mensch nicht mehr davon ab.

Eine Folgerung aus dem launenhaften himmlischen Herrscher in den menschlichen Bereich hinein ist der freie Wille. Unserem Konzept von Gott nachgebildet sehen wir uns selbst als getrennte Manipulatoren des Rests der Welt, und ganz verschiedenen Gesetzen unterworfen, als Gott sie für die Tiere vorgesehen hat. Wir konnten uns aussuchen zu gehorchen oder nicht zu gehorchen, und wir konnten die Welt so manipulieren, wie wir es für angebracht hielten, anstatt bloß eine Rolle in einer vorbestimmten Harmonie zu spielen. Der hebräische, christliche und muslimische Gott (allerdings nicht der aus den esoterischen Traditionen dieser Religionen) gibt das Modell für die äußerste Trennung unser selbst vom Universum vor, für die Entfremdung des getrennten Selbst in einer Welt von Objekten. Natürlich sind wir schließlich ganz ohne Gott ausgekommen, als die Wissenschaft begann, das Wirken in der Welt ohne Bezug auf einen übernatürlichen Verursacher zu erklären. Eine andere Betrachtungsmöglichkeit ist allerdings, dass wir selbst Gott ersetzt haben. Durch Wissenschaft und Technologie haben wir selbst die Funktionen angenommen, die wir vorher Gott zugeschrieben haben: der Direktor der Natur, der Freie Wille, der die Macht hat zu sagen: „Es geschehe dieses oder jenes!“ Wenn uns nicht gefällt, was ist, dann können wir es ändern, wir können etwas anderes geschehen machen. Die babylonische Logik des Technologischen Programms lautet, dass unsere Macht, dies zu tun, unbegrenzt ist.

Der Aufstieg der Wissenschaft, wie er im nächsten Kapitel beschrieben wird, kann als abschließende Phase im Fortschreiten der Religion weg von ihren ganzheitlichen, animistischen Wurzeln gesehen werden. Es ist ebenso eine notwendige Phase, der Gipfel eine uralten Prozesses. Bevor ich den Lauf der Welt darlege, wie ihn die Wissenschaft sieht, möchte ich gerne eine andere Interpretation anbieten für die Geschichte, die ich erzählt habe, für den unglaublichen Abstieg, der sich als Aufstieg verkleidet.

81 Oppenheimer, S. 101

82 Das Fehlen der Standardisierung, auf die sich Diamond (S.38) bezieht, ist hochbedeutsam, weil sie eine Arbeitsteilung und die mögliche Umwandlung der Produkte zu Gütern nahelegt.

83 Brown, S. 17

84 Campbell, Joseph, Myths to Live By, The Viking Press, 1972. S. 74

85 ebd., S. 76

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1998-2011 Charles Eisenstein