Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein

Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters

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Inhaltsverzeichnis:


Der Geist in der Maschine

Denn da Leben doch nichts anderes ist als eine Bewegung der Glieder ... Ist das Herz nicht als Springfeder anzusehen? Sind nicht die Nerven ein Netzwerk und der Gliederbau eine Menge von Rädern, die im Körper die Bewegungen hervorbringen?
—Thomas Hobbes

Folgt man der galileischen Teilung des Universums in das Objektive und das Subjektive, dann wäre der nächste Schritt, das letztere vollständig zu beseitigen, indem man das Qualitative quantifiziert. In vielen Bereichen ist das schon erreicht. Klänge zum Beispiel reduzieren wir auf eine bestimmte Anzahl von Sinuswellen, die, wenn man sie wieder zusammenfügt, den natürlichen Klang näherungsweise wiedergeben. Gleichermaßen können wir visuelle Erfahrungen durch Zahlen repräsentieren, die die langwelligen, kurzwelligen und mittelwelligen Komponenten eines endlichen Pixelfeldes angeben. Ja, wir haben große Schritte bei der Umwandlung der Welt in Zahlen gemacht.

Als Bürger des Universums tun wir das, was wir dem Universum antun, natürlich auch uns selbst an. Es dauerte nicht lang, da wurde das Uhrwerksparadigma auf das Leben im Allgemeinen und auf Menschen im Speziellen angewendet. Wenn die ganze Welt eine Maschine ist, dann sind auch wir, die wir von dieser Welt sind, Maschinen.

Die Gleichsetzung von Menschen und Maschinen ist eine Ansicht, die dem gesunden Menschenverstand dermaßen unerhört ist, dass es Jahrhunderte der Vorbereitung brauchte, bevor sie ausgedrückt und akzeptiert werden konnte. Maschinen sind immerhin gebaut und Menschen wachsen. Maschinen bewegen sich nur wie befohlen; Menschen bewegen sich autonom. Maschinen sind nach standardisierten Spezifikationen gebaut; jeder Mensch ist einzigartig. Maschinen sind meist hart; Menschen sind weich. Die Bewegungen von Maschinen sind regelmäßig und vorhersehbar; die der Menschen sind unregelmäßig und spontan. Maschinen reparieren sich nicht selbst; menschliche Körper tun dies.

Und doch wurde die mechanistische Schlussfolgerung unausweichlich, als Galileo die Subjektivität aus der Wirklichkeit und Gott aus dem Alltagsgeschehen der Welt ausschloss. Der Erfahrende subjektiver Qualitäten qualifiziert sich nicht länger für die Teilnahme an der Welt der Materie und wird so höchstens zu einem bloßen Betrachter. Außerhalb jenes Betrachters gibt es nur eine mechanische Welt der Materie, die seinen Körper enthält. Und für diese nervigen subjektiven Erfahrungen war die Lösung in den Jahrhunderten nach Galileo, sie lediglich in einige messbare Inputs und Outputs umzuwandeln und sie damit gemäß Galileos Kriterium wieder real zu machen. Der Behaviorismus aus der Mitte des 20. Jahrhunderts ging soweit, die Wirklichkeit subjektiver Zustände ausdrücklich zu verneinen. Die gegenwärtige Neurowissenschaft ist nicht ganz so unverfroren, ist aber programmatisch durchaus verwandt. Indem sie versucht, subjektive Zustände im Sinne messbarer Muster elektromagnetischer, chemischer und physischer Aktivität zu charakterisieren, bringt die Neurologie diese Zustände in den Bereich der Wissenschaft – des Messbaren – und potentiell in den Bereich der Technologie – des Kontrollierbaren. Der Geist, sagen sie, und nicht der Weltraum ist die letzte Bastion, deren Eroberung uns in die Lage versetzen könnte, ein für alle Mal menschliches Leiden zu beenden. Indem das Leiden von einem subjektiven in einen objektiven Zustand umgewandelt wird, könnten wir es durch passende Krafteinwirkung mittels elektrischer oder pharmazeutischer Maßnahmen kontrollieren.

Die meisten Wissenschaftler erkennen an, dass sich die Quantifizierung selbst der einfachsten Zustände des Schmerzes und der Freude an der unüberwindlichen Subjektivität die Zähne ausbeißt. Diese Erkenntnis muss allerdings noch in bedeutsamer Weise auf die Handlungspraxis der Psychiatrie einwirken, die Fröhlichkeitspillen in Rekordzahlen verschreibt in der Annahme, dass Glück nichts anderes ist oder bewirkt wird durch quantifizierbare Niveaus von Serotonin und anderen Neurotransmittern.

Verborgen unter Galileos Abschaffung der Subjektivität liegt das Konzept der Objektivität, das unseren getrübten Intuitionen vernünftig erscheint, auch wenn es alten Weltanschauungen und der modernen Physik widerspricht. Das ist das absolute Cartesische Koordinatensystem von Raum und Zeit, das im ersten Abschnitt dieses Kapitels behandelt wurde: eine Matrix, in der Objekte und Ereignisse eine abgetrennte Existenz unabhängig von irgendeinem Beobachter haben. Es ist bedeutsam, dass René Descartes, der Urheber unserer gegenwärtigen Auffassung von mathematischen Koordinaten, uns auch die definierende Behauptung des modernen Selbst gegeben hat.

Descartes unsterbliche Erklärung „ich denke, also bin ich“ zog ihre extremste Schlussfolgerung in Galileos Abtrennung des Geistes und der erfahrenen Welt der Sinne. Denn wenn der Geist verschieden ist von der Welt und das Sein den Geist einschließt, dann ist das Sein ebenfalls unabhängig von der Welt. Mensch zu sein heißt getrennt zu sein. Getrennt wovon? Von der Welt, die wir erleben; das heißt, von der Natur im allgemeinsten Sinne des Wortes.

In diesem Ausspruch trieb Descartes die dualistische Unterteilung des Universums in das Selbst und das Andere auf sein logisches Extrem und vollzog damit den Prozess, der sich schon seit Anbeginn der Zeit entwickelte. Wärend das primitive Selbst durch intime Beziehungen mit Menschen und Natur definiert ist, führten die distanzierenden Auswirkungen symbolischer Kultur, Kultivierung und Technologie zum Aufkommen eines neuen Selbst: der frei wählende, rationale Akteur. Joseph Campbell schreibt:

Zusammen mit und als Folge von diesem Verlust essentieller Identität mit dem organisch göttlichen Wesen des lebenden Universums, wurde der Mensch entlassen in eine eigene Existenz, versehen mit einer gewissen Freiheit des Willens, oder vielmehr hat er diese für sich gewonnen. Und er wurde dadurch in Beziehung gesetzt zu einer Gottheit, getrennt von ihm selbst, die auch einen freien Willen genießt. Die Götter des weiten Orient, sind als Vermittler des Kreislaufs kaum mehr als Aufseher und personifizieren und verwalten den Prozess eines Kreislaufs, den sie weder in Gang gesetzt haben noch kontrollieren.23

Die Bühne war nun frei für Descartes, um das Selbst auf sein absolutes Minimum zu reduzieren: ein beobachtender Krümel Bewusstsein, aber verschieden vom Körper, dem Gehirn, den Gefühlen und den Gedanken. Descartes „ich bin“ ist der Denker, nicht die Gedanken, der Fühlende und nicht die Gefühle; es ist der Beobachter und der Rest des Universums ist das Objekt. Descartes hat damit die Schrumpfung des Selbst auf seinen Tiefpunkt gebracht. Diese Schrumpfung ging schon seit dem Ursprung der Technologie und der symbolischen Kultur vor sich, und sie findet ihre Entsprechung in einem korrespondierenden Extrem der Entfremdung von der Natur, anderen Menschen, und jetzt auch, dank Descartes, selbst von unseren eigenen Körpern, Gedanken und Gefühlen.

In der abschließenden Analyse reduziert der Dualismus, wie er von Descartes formuliert wurde, das gesamte Universum auf den Status eines bloßen Objekts, einer „kahlen, entvölkerten Welt der Materie und Bewegung: ein Ödland.24“ Es ist dem Cartesischen Selbst, das gefangen ist in seinem automatenhaften Gefängnis aus Fleisch, vollkommen fremd. Ein Grund, warum dieser Glaube psychologisch so vernichtend ist, ist, dass aus ihm folgt, das Universum wäre ohne uns kaum anders. Wir sind verzichtbar, getrennt, unnötig. Unsere Erfahrung in der anonymen Gesellschaft der Maschine wird davon getragen: sie reduziert jede Person auf eine Rolle, einen standardisierten Funktionsträger. In Newtons Universum ist jedes Objekt gleichermaßen reduziert auf eine Masse, die vollständig charakterisiert ist durch generische Eigenschaften, wie Position, Geschwindigkeit, Masse und später dann elektrische Ladung. Nicht nur, dass das Universum ein Objekt im Sinne eines Außerhalb vom Selbst ist, sondern das Selbst wird ebenfalls ein Objekt, eines unter vielen, operational gemäß den oben genannten Eigenschaften definierten Objekten, und es wechselwirkt, so wie jede andere Materie, mit dem Rest des Universums im Einklang mit Newtons unpersönlichen, deterministischen Gesetzen. Du, mein Freund, bist eine Masse.

Die Annahme der Objektivität nahm mathematische Form an in Newtons Formulierung seiner Gesetze der Schwerkraft und Bewegung, die auf dem Hintergrund von Descartes absolutem Koordinatensystem operieren. Das Koordinatensystem ist unveränderbar und ewig. Es ist das Gewebe der Wirklichkeit, durch das wir uns bewegen; es ist fundamentaler als die Objekte, die es enthält; es ist darüber hinaus dem Beobachter übergeordnet, der irrelevant ist für die Eigenschaften anderer Objekte und Kräfte die auf sie wirken25. Das diskrete, getrennte Selbst ist damit in das grundlegende Fundament der Wissenschaft gemeißelt. Und da zählt es nicht, dass das absolute, universelle Koordinatensystem seit 1905 wissenschaftlich erledigt ist – es ist immer noch lebendig und wohlauf in unseren Intuitionen darüber, was rational, objektiv und wissenschaftlich ist. Es gibt eine absolute Wirklichkeit da draußen, und Wissenschaft ist der Weg, auf dem wir entdecken, was sie sei.

Betrachten wir das Universum und selbst die lebenden Kreaturen als grundsätzlich seelenlose Maschinen, sind Skrupel über die Behandlung von lebenden, fühlenden Wesen nicht mehr angemessen. Max Velman beobachtet: „Nach Descartes vereint nur der Mensch die res cogitans (den Bewusstseinsstoff) mit der res extensa (der Materie). Tiere, auf die er sich als „Biester“ bezog, sind nicht mehr als unbewusste Maschinen.26“ Entsprechend hatten Descartes Nachfolger keine Skrupel, Hunde an Stellwände zu nageln und sie aufzuschneiden, um nachzuschauen, wie die Teile arbeiteten, wobei sie ihre Schmerzensschreie als nicht mehr ansahen, als das Hauchen eines Balgs und das Quietschen eines Rades. Fontanelle, einer von Descartes Zeitgenossen beschreibt es so: „Sie schlugen Hunde mit vollkommener Gleichgültigkeit und machten sich über jene lustig, denen die Kreaturen Leid taten, als hätten sie Schmerzen. Sie sagten, dass Tiere Uhrwerke wären; dass die Schreie, die sie ausstießen, wenn sie geschlagen wurden, nur Geräusche von kleinen Federn waren, die berührt wurden, aber dass der gesamte Körper ohne Gefühl sei. Sie nagelten die armen Tiere an Tafeln bei ihren vier Pfoten, um sie zu sezieren und ihre Blutzirkulation zu sehen.27“ Siehst du – dort ist die Pumpe! Und hier ist der Balg!

Nach dieser Logik zählen die anderen Objekte des Universums einschließlich lebender nicht sehr viel. Ihnen fehlt etwas, dass das Selbst besitzt. Moralität ist auf sie nicht anwendbarer als bei einem Mixer oder einer Uhr. Angenommen ich nehme eine weiche Spielzeugkatze aus Plastik und ersetze ihren Quietscher durch eine Apparatur, die, wenn sie gedrückt wird, genau das Geräusch einer Katze in tötlicher Agonie macht. Wenn ich mit meinem Stiefel auf sie trete, erzeuge ich kein echtes Leiden, nur den Anschein von Leiden. Ich habe nichts unmoralisches getan (ein wenig verschroben vielleicht, aber nichts böses). Wenn Tiere und in der Tat das gesamte Universum gleichermaßen nichtfühlend sind und nur die Illusion von Gefühl zeigen, dann ist dieselbe moralische Erlaubnis auf das gesamte Universum anwendbar. Das ist die unweigerliche Folgerung der galileischen Verbannung des Subjektiven aus dem Reich der wissenschaftlichen Realität.

Das vorgenannte Katzenbeispiel ist hochrelevant für das moderne Leben. Die Unterhaltungsindustrie nennt es „Soundeffekt“. In einer künstlichen Welt, in der das abgetrennte menschliche Reich alles andere verschlingt, was ist da der Unterschied zwischen der Darstellung eines grausamen Todes in einem Videospiel und demselben als Foto in einem Zeitungsartikel? Was ist der Unterschied aus der Sicht des Publikums? Der einzige Unterschied liegt darin, wie die Worte oder Bilder interpretiert werden – als wirklich oder unwirklich. Aber wir wurden ausgebildet als Reduktionisten, Dinge außerhalb ihres Kontexts zu verstehen; das Probeexemplar aus der Natur zu entnehmen und ins Labor zu schaffen. Egal, was die Quelle ist, ob nun ein Gefängnis in Bagdad oder ein Videospiel aus dem Silicon Valley, der Zuschauer sieht dieselben Pixel auf dem Bildschirm. Wir lassen junge Kinder keine Gewaltfilme schauen, weil das für sie zu traumatisch wäre – sie würden Denken, die Gewalt sei real. Aber früh genug wird die allgegenwärtige Darstellung von Gewalt in unserer Kultur sie weniger empfindlich machen. Das Leiden anderer nimmt eine Unwirklichkeit an, ohne die wir niemals fortfahren könnten, es zu verursachen. Und doch können wir diese Unwirklichkeit nicht gänzlich den Medien anlasten. Ist es nicht eingebaut in die galileische Auffassung von Wissenschaft? Danach ist nämlich das Leiden anderer unwirklich, außer in dem Maße, da es messbar ist. Unglücklicherweise halten die Zahlen, die man verwendet, um Gewalt zu messen – Mordraten, abgeholzte Flächen Regenwald, Konzentrationen toxischer Chemikalien, Sachschäden bei Katastrophen und so weiter – das tatsächliche Leid auf sichere Distanz, es ist entfernt und damit unwirklich. Wann wird es für uns wirklich? Wenn es den Bereich des Objektiven verlässt, um zu Geschichten und Bildern zu werden, die mit echten Menschen verbunden sind. Da sie dies verstehen, hindern Politiker uns so sehr wie möglich, tatsächliche Fotos von Kriegszerstörungen zu sehen, denn sie wissen, dass wir, wenn wir die Wirklichkeit des Leids erkennen, eine Beendigung fordern werden. Galileo hat es genau falsch herum verstanden. Es ist das Subjektive, das wirklich ist.

Mit Galileo und Descartes erhielt die Distanzierung vom Opfer, die schon mit der Etikettierung und Zählung begann, ihren vollen ideologischen Ausdruck. Aus der Welt der primitiven Animisten, in der wir in Wendell Berrys Worten „heilige Wesen sind, die zwischen anderen heiligen Wesen leben, in einer Welt, die selbst heilig ist“, sind wir angekommen in einer Welt, in der wir mechanische Wesen sind, die zwischen anderen mechanischen Wesen leben, in einer Welt, die selbst eine gigantischen Maschine ist.

Descartes selbst zögerte vor dem letzten Schritt dieses Prozessen und bewahrte für den Menschen einen Fetzen Subjektivität, eine Seele, einen getrennten Punkt des Gewahrseins. Wie wir alle fühlte sich Descartes nicht wie eine Maschine! Aber dieselbe Logik, die Descartes auf Tiere anwendet, kann auch auf Menschen angewendet werden – und das wurde in der Geschichte auch wiederholt gemacht, mit zerstörerischen Folgen.

Die Logik, zuerst formuliert von La Mettrie in dem Aufsatz „Die Maschine Mensch“ von 1748 und gipfelnd in heutigen Arbeiten wie etwa Daniel Dennets scharf diskutiertem Consciousness Explained [Das Bewusstsein erklärt, Anm. d. Übers.] , ist gnadenlos. Es gibt keinen Kern des Gewahrseins, keinen Sitz der Seele, kein „Cartesianisches Theater“ (um Dennets Ausdruck zu verwenden), wo die Seele (Geist, Bewusstsein) sich ankommende Sinnesinformation betrachtet. Mit anderen Worten, es gibt keine Zuflucht für die Subjektivität, dessen Umwandlung in das Messbare damit keine Grenzen gesetzt sind. Der Fortschritt, den wir bei der Analyse von Wahrnehmungen, wie dem Sehen oder Hören, gemacht haben, kann unendlich ausgeweitet werden. Nicht einmal das Bewusstsein selbst – die Zuflucht der cartesianischen Seele – ist ausgenommen. Nach neuester Forschung hängen Zustände mystischer Erfahrung – Einssein mit dem Kosmos oder mit Gott – mit messbaren Aktivitäten in bestimmten Hirnarealen zusammen28. Vielleicht sind wir eines Tages dazu in der Lage, diese Zustände mit der richtigen elektrischen Stimulation auf Verlangen zu erfahren. Es gibt keinen Zustand des Bewusstseins, der nicht entsteht oder zusammenhängt mit einem Zustand des Gehirns, das ja schließlich aus Materie zusammengesetzt und denselben physikalischen Gesetzen unterworfen ist, wie alle übrige Materie des Universums.

Hast du das verstanden? All deine Gedanken, all deine Gefühle, selbst deine religiösen Erfahrungen sind nichts anderes, als die Interaktion verschiedener Massen, die dich ausmachen. Die Wissenschaft scheint unsere tiefsten Seelen zu verneinen.

Trotz der Verneinung der Seele, die aus dem vollen Ausdruck des Mechanismusgedankens zu folgen scheint, fordert die Religion jenen Gedanken kaum ernstlich heraus. Religion stimmt letztendlich überein mit der orthodoxen wissenschaftlichen Sicht, das Universum operiere gemäß mechanischer Prinzipien, außer in bestimmten speziellen Umständen, in denen ein Wesen außerhalb der Materie, genannt Gott, eingreift in das Universum der deterministischen Gesetze in Form von Erscheinungen, die Wunder genannt werden. Indem sie Gott aus dem Universum herausgetrennt und Ihn auf die Rolle des Uhrmachers und gelegentlichen Wunderproduzenten beschränkt hat, leistete die Antwort der Kirche auf die Wissenschaft Beihilfe bei der Entspiritualisierung des Lebens. Dies war zu erwarten, wenn man weiß, dass beide Institutionen in denselben grundlegenden, kulturellen Kräften ihren Ursprung haben. Sowohl in wissenschaftlicher als auch in religiöser Sicht ist der Mensch letzendlich allein: im ersten Fall gibt es überhaupt keinen Gott, und im letzter Fall, Gott ausgesondert wurde aus der materiellen Welt, in der wir leben.

Dennets Dekonstruktion des Cartesianischen Theaters ist lediglich der letzte Schritt in der Trennung von Geist und Materie, denn wenn erst einmal der Geist (wie von Descartes) auf einen Krümel Selbst-Bewusstsein reduziert wurde, der unverbunden mit der Fleischmaschine des Körpers ist, wird es vollkommen irrelevant für die physikalische Welt und damit für die Wissenschaft. Unverbunden mit der Materie braucht es für alle praktische Belange eigentlich nicht zu existieren.

Angesichts des Cartesianischen Dualismus und der sich auftürmenden Erklärungsmacht der Wissenschaft hat sich die Religion nach Innen zurückgezogen, weg von ihrer ehemaligen Rolle, alles Wirken in der Welt zu erklären, hin zur ausschließlichen Beschäftigung mit „spirituellen Dingen“. Aber kein Rückzug könnte weit genug gehen, um dem langen Arm der Wissenschaft zu entgehen, die eines nach dem anderen alle verbleibenden Geheimnisse demontiert hat und die den Geist in Verstand und den Verstand in Gehirn umgewandelt hat. Indem die Psychiatrie und die Neurologie die biologische Grundlage der Gedanken und Gefühle beleuchtet, bleibt in der Tat wenig Raum für die nicht materielle Seele.

Einige Leute versuchen Sinn, Bedeutsamkeit und Heiligkeit zu retten, indem sie Mysterien anführen, die „die Wissenschaft niemals erklären kann“. Ironischerweise erstarken die universellen Behauptungen der Vernunft und der Wissenschaftlichen Methode umso stärker, da ein Mysterium nach dem anderen nachgibt. Und noch ironischer ist, dass diese Versuche die Grundannahme, die als erstes für die Entsakralisierung der Welt verantworlich ist, noch verstärken. Diese Grundannahme lautet kurz: Das heilige und wundersame ist außerhalb des gewöhnlichen Wirkens der Welt zu finden. Tatsächlich sind sie aber darin zu finden.

Dieser Vorschlag, den ich in Kapitel VI entwickeln werde, umgeht den gesamten Kulturkrieg zwischen Wissenschaft und Religion und unterwandert die grundlegenden Annahmen beider. In diesem Krieg sind die Mächte der Wissenschaft vertreten durch eine Gruppe von Philosophen, die manchmal auch „Neue Humanisten“ genannt werden.. Geführt von Daniel Dennet, Jared Diamond, Steven Pinker, Marvin Minsky, Richard Dawkins und Lee Smolin halten sie die Ideologie des Wissenschaftlichen Programms hoch und verkünden die bevorstehende Enthüllung der letzten Naturmysterien: freier Wille, Liebe, Bewusstsein und religiöses Erleben.

Diese Philosophen sind auf einem Kreuzzug gegen ihren ausgewählten Feind Nummer Eins, die Mächte der Religion, die unser intuitives Gefühl von Sinn und Bedeutung im Leben ansprechen, indem sie einen externen Gott, Geist oder eine äquivalente Macht postulieren, die das Leben und das Universum mit Sinn erfüllt. Die philosophischen Probleme eines solchen Dualismus sind wohlbekannt: wenn ein außermaterieller Geist auf irgend eine Weise mit Materie wechselwirkt, wie kann er da noch außermateriell sein? Wenn er materiell ist, in welchem Bestandteil der Materie hält er sich dann auf? Die hauptsächlichen physikalischen Kräfte sind – so wird behauptet – schon bekannt und durch Gleichungen beschrieben. Und wie die Neuen Humanisten gerne zeigen, schrumpft der Bereich des Geheimnisvollen, der andernfalls neue Kräfte nötig machen könnte, mehr und mehr und lässt dem Gläubigen nur zwei offensichtliche Möglichkeiten: erstens die Welt der Materie gänzlich der Wissenschaft zu überlassen und damit den Geist zu einem bloßen Geist in der Maschine zu machen, der vollkommen ohnmächtig und folgenlos ist, oder zweitens einfach die Belege der Wissenschaft abzulehnen und zum Beispiel der Evolution trotz schlagender Beweise keinen Glauben zu schenken.

Entsprechend haben wir in unserer Gesellschaft zwei getrennte Entwicklungen in der institutionellen Religion. Bezogen auf die erste Möglichkeit wird der religiöse Glaube zunehmend irrelevant für das Leben in der Hauptströmung der Gesellschaft und hat wenig Einfluss auf die Art, wie wir leben; gleichzeitig brechen entsprechend der zweiten Möglichkeit große Zahlen von Fundamentalisten aus der Hauptströmung der Gesellschaft aus in eine polarisierte Welt der Geretteten und der nicht Geretteten. Im ersten Fall hat die Religion keine Auswirkungen auf das materielle Leben: ungeachtet der religiösen Zugehörigkeit schauen alle dieselben Fernsehprogramme, sind Fans derselben Sportmannschaften, kaufen dieselben Marken und gehen auf dieselben Schulen. Da sie für die materielle Welt folgenlos ist, kann die Religion aus den Klassenräumen, den Besprechungsräumen und der Konversation gehalten werden. Im zweiten Falle ziehen sich einige religiöse Gruppen gleichlautend mit ihrer Leugnung des Konsens über Fakten der Welt zurück in eine inselhafte Subkultur, in der Religion wieder jeden Aspekt des Lebens durchzieht. Sie nehmen ihre Kinder in Hausunterricht, haben nur Kontakte zu anderen derselben religiösen Überzeugung, schützen ihre Kinder vor „dämonischen Einflüssen“ wie Halloween, Harry Potter und Pokémon, halten sich fern von Rockmusik, Fernsehen und populärer Kultur und sogar von ihrer eigenen Nachbarschaft, manchmal innerhalb festungsartiger Siedlungen. Ihr Inseldasein ist eine weitere Spielart der „Entfernung aus der Welt“, die die moderne Religion charakterisiert.

Die scheinbar entgegengesetzte Opposition zwischen Neuen Humanisten und den religiösen Fundamentalisten ist eine Fassade, die eine grundlegende Übereinstimmung maskiert: dass die Akzeptanz der wissenschaftlichen Weltsicht heißt, Sinn, Zweck, Bedeutung und Heiligkeit zu verlieren. Wir können uns das Heilige nicht mehr nicht-dualistisch vorstellen, in der Abwesenheit von irgendetwas Externem, das es heilig machen würde, das ihm dem Geist einhaucht, der der Materie fehlt. Ein Zweck dieses Buches ist es, eine Auffassung von Geist-Seele anzubieten, die nicht dualistisch ist und damit eine Auffasung von Spiritualität, die uns nicht aus dem Leben dieser Welt herausnimmt.

Während Daniel Dennet ein entschiedener Kämpfer der wissenschaftlichen Orthodoxie und ein felsenfester Anhänger des Wissenschaftlichen Programms ist, macht seine Arbeit die Bühne frei für eine Rückkehr zu eines gänzlich beseelten Universums. Denn er hat die dualistische Trennung der Wirklichkeit in zwei separate Aspekte, Geist und Materie, auseinandergenommen und auf die illusorische Natur des abgetrennten Selbst hingewiesen – den Cartesianischen Beobachtungspunkt des Bewusstseins. Dies ist keine neue Einsicht – Buddhisten sagen letzendlich genau dasselbe schon seit Jahrtausenden – aber seine Arbeit ist bedeutsam wegen seiner Erklärung des Bewusstseins in nicht-dualistischem Sinne und für seine Enthüllung hartnäckig sich haltender dualistischer Annahmen in der Wissenschaft.

Wir haben also den vollen Kreis beschrieben. Von unseren animistischen Anfängen, in denen Geist und Materie eins waren, sind wir vorangeschritten durch Jahrtausende einer sich ausweitenden Trennung zwischen ihnen, bis irgendwann der Geist zu etwas gänzlich immateriellen und damit nicht existenten wurde. Wir wurden zurückgelassen allein mit der Materie. Unterscheidet sich dies überhaupt von den Animisten?

Es gibt in der Tat einen entscheidenden Unterschied. Der Unterschied liegt allerdings nicht in der Einstellung zum Geist; es ist die Einstellung zur Materie! Die Wiederbeseelung der Welt liegt nicht darin, einen außermateriellen Geist in die Materie zu bringen, sondern darin zu verstehen, dass Materie selbst die Eigenschaften besitzt, die vormals dem Geist zugeschrieben wurden. Die ganze Welt ist beseelt. Sie enthält oder besitzt nicht Geist; sie ist Geist.

Dieses Buch schlägt eine Auffassung vom Selbst vor, das kein Einzelnes, Getrenntes ist, sondern eine aus komplexen Wechselbeziehungen aufsteigende Eigenschaft, die nicht nur das Gehirn umfasst, sondern den gesamten Körper und auch die Umwelt, sowohl physisch als auch sozial. Vorzugeben, es wäre anders, heißt, uns von dem meisten, was uns ausmacht, abzuschneiden. Auf das cartesianische Extrem getrieben, schneidet es uns selbst von unseren Körpern ab – die nicht länger Selbst, sondern nur noch Materie sind – als auch von unseren Gefühlen. „Ich denke, also bin ich.“ Bin-heit liegt im Denken allein. Oder weniger, denn die Logik Descartes sagt, dass das Selbst nicht die Gedanken sind, sonder das, was dieser Gedanken gewahr ist, der oben genannte „Krümel Selbst-Bewusstsein“. Als logische Folgerung der Selbst-Andere Dualität ist das Selbst auf ein Nichts zu reduzieren. Könnte dies eine weitere Quelle der hintergründigen Angst in unserer Gesellschaft sein? Könnte diese fortschreitende Reduktion des Selbst auf einen nicht existenten Punkt des Gewahrseins in Leugnung all dessen, was wir sind, ein Grund dafür sein, warum wir zwanghaft soviel Nicht-Selbst anhäufen, so viel materiellen und sozialen Besitz – in einem nutzlosen Versuch, unser verlorenes Sein zurückzuerhalten?

23 Campbell, Joseph, Myths to Live By, Viking Press, 1972. S. 76 im Nachdruck von Compass, 1993.

24 Mumford, Lewis, Technics and Civilization , Harcourt, Brace & Co. 1963, S. 51

25 Auch wenn Zeitgenossen wie Leibniz und Berkeley Newtons Idee des „absoluten Raums“ bestritten, indem sie darauf bestanden, dass eine Position relativ zu Sternen oder anderen Objekten definiert werden könnte, wird man das absolute Cartesianische Koordinatensystem nur schwer los, ob es nun als physikalisch real angesehen wird oder nicht. Das kommt, weil es in der Euklidischen Mathematik von Newtons Theorie festgeschrieben ist. Selbst wenn es keine physikalisch realen absoluten Raum gibt, erlaubt einem die Tatsache, dass Eigenschaften wie Position, Länge und Zeit invariant über verschiedene Bezugsrahmen sind, ein absolutes Koordinatensystem mathematisch zu konstruieren.

26 Velmans, Max, Understanding Consciousness, Routledge, 2000. S.264.

27 Zitiert von Anthony D’Amato. Whales: Their Emerging Right to Life (mit Sudhir K. Chopra), 85 American Journal of International Law 21 (1991)

28 Siehe zum Beispiel Andrew Newberg, Eugene G. D’Aquili, Vince Rause, Der gedachte Gott: Wie Glaube im Gehirn entsteht, Piper, 2003 (2.Aufl.)

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1998-2011 Charles Eisenstein