Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein

Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters

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Inhaltsverzeichnis:


Die Krise des Kapitals

Die Logik des Zinses ist die Logik der Sucht. Sie setzt voraus, dass wir immer und ewig einen Weg finden werden, um den endlos wachsenden Konsumbedarf zu stillen. Wir werden immer in der Lage sein, eine neue Ressource oder eine neue Form umwandelbaren Kapitals zu finden. Wie bei der Sucht verlangt der Zins, dass mehr und mehr vom Leben darauf ausgerichtet wird, ihn zu füttern. Ich spreche hier nicht nur metaphorisch, wie jeder weiß, der einen schweren Studienkredit oder Kreditkartenschulden zu schultern hat. „Mehr und mehr vom Leben ist darauf ausgerichtet, sie zu füttern.“ Der Zins fordert das ewige Opfer, das William Wordsworth als Schlüsseleigenschaft der Maschinenzivilisation verstand. Je höher der Zinssatz, desto machtvoller die Notwendigkeit, soziales und natürliches Kapital zu Geld zu machen.

Je länger irgendeine Sucht aufrecht erhalten wird, desto größer die Erschöpfung des Lebens und desto extremer die Maßnahmen, um sie weiter aufrecht zu erhalten. So wie der Süchtige seine Lebensversicherungen zu Geld macht, Geld von Freunden leiht und irgendwann jede physiche und soziale Ressource flüssig macht, so sucht auch unsere Gesellschaft jede mögliche Quelle von noch unausgebeutetem sozialem, natürlichem, kulturellem und spirituellem Kapital. So gut unsere Absichten, diese zu schützen, auch sein mögen, der Zins erzeugt eine unaufhaltsame Macht, die sie von allen Seiten angreift, immer auf der Suche nach einem Weg hinein.

Der Marxismus beschreibt diesen Prozess und seine Unausweichlichkeit im Sinne des Imperativs des (finanziellen) Kapitals, fortwährend neue Bereiche zur Ausbeutung zu finden, um die Krise sinkender Profite, zerstörerischen Wettbewerbs und der Konzentration von Besitz zu verzögern. Das endlose Wachstum, das unser Geld- und Besitzsystem verlangt und die endlose Umwandlung des Lebens zu Geld verhüllen einen schwelenden Widerspruch, der von Anbeginn der Industriellen Revolution bekannt ist. Das ist die Krise der Überproduktion, im Detail beschrieben von Karl Marx, aber auch bis heute offen diskutiert von Industriellen und ihren Denkern.

Einfach ausgedrückt, ist es unter dem gegenwärtigen System von Geld und Besitz allgemein von Vorteil für den individuellen Produzenten, so viel wie möglich zu produzieren, um die Vorzüge der Massenfertigung – dem Erkennungsmerkmal der Industrie – zu genießen. Wenn nun aber jeder Produzent so verfährt, ist das Ergebnis Überproduktion und damit sinkende Profite, sinkende Löhne, Bankrotte, Konzentration von Besitz, Arbeitslosigkeit und schließlich, um den Teufelskreis zu schließen, sinkende Nachfrage. Marx sah all dies in einer Revolution gipfeln, sobald die mit den eben beschriebenen Entwicklungen verbundene Not für ausreichend Menschen untragbar wird. Angesichts dieser Möglichkeit ist die kapitalistische Gesellschaft angetrieben durch die organische Notwendigkeit, dieses von Marx vorhergesagte, beängstigende Finale hinaus zu zögern – hoffentlich für immer. Eine Möglichkeit ist die Begrenzung der Produktion (beispielsweise durch die Erhöhung der Zinssätze oder durch Planwirtschaft); eine andere ist, Überproduktion durch Krieg abzubauen; eine dritte Möglichkeit ist, „neue Märkte“ durch Technologie und Imperialismus zu erobern. Die erste kann nicht funktionieren, weil sie ganz grundsätzlich unserem Geldsystem und dessen Notwendigkeit endlosen Wachstums zuwiderläuft und damit genau die deflationäre Krise entfacht, die es zu vermeiden sucht. Die zweite Option funktioniert recht gut, erfordert aber eine ewige Intensivierung, die ein Ende fand mit der Erfindung thermonuklearer Waffen. Der schwelende Kriegszustand, den wir heute haben, genügt nicht, um das exponentielle Produktionswachstum aufzusaugen.

Das lässt uns nur die dritte Möglichkeit. Die drohende, unausweichliche Revolution, die Marx vorhergesagt hat, ist nicht gekommen, weil die Technologie immer wieder frische neue Märkte erschaffen hat. Jedes Mal entsteht eine neue Industrie mit einem wimmelnden Pandemonium von unzähligen wetteifernden Firmen, die neue Arbeitsplätze, neuen Wohlstand und neue Geschäftsfelder schaffen. Schließlich scheitern Firmen oder verschmelzen, Gewinnspannen sinken und Entlassungen setzen ein, aber dann übernimmt irgendein neu entstandener Wirtschaftssektor den Schwung. Marx’ Analyse scheint also die Evolution einer bestimmten Industrie sehr akkurat beschrieben zu haben, sie ist aber nicht anwendbar auf die Wirtschaft als Ganzes, solange es immer neue Technologien, neue Industrien und neue Märkte gibt.

Hat die Fähigkeit der Technologie, immer neue Bereiche für Kapitalinvestition zu öffnen, eine Grenze? Wenn nicht, dann wird Marx’ Krise des Kapitalismus niemals kommen. Aber wenn wir die Technologie als ein Mittel verstehen, nicht geldwerte Formen des Kapitals in Finanzkapital umzuwandeln, dann wird es einen Punkt geben, an dem diese anderen Formen des Kapitals erschöpft sind. Mit anderen Worten, was die ganze Zeit geschah, ist nicht die Schaffung neuen Wohlstands, sondern die Umwandlung vorhandenen (nicht geldwerten) Wohlstands zu geldwertem Wohlstand, und das gibt dem „Kapitalismus“ eine zeitlich befristete Pacht auf das Leben. Ich habe argumentiert, dass „neue“ Wirtschaftszweige üblicherweise ein Transfer ist von Dingen, welche die Menschen vorher für sich selbst getan haben, in die Hände von Spezialisten. Was wird geschehen, wenn es nichts mehr zu transferieren gibt?

Die Situation ist der marxistischen Erklärung von Kolonialismus und Imperialismus sehr ähnlich. Wenn sich ein Land nach der marxistischen Theorie bis zu einem bestimmten Punkt entwickelt hat, erzeugt die wachsende Krise immer geringerer Erträge aus Investitionen und sinkender Gewinne einen ernormen Druck, neue Gegenden zu finden, wo die Löhne noch niedriger sind, wo Rohstoffe noch billiger gefördert werden können, wo es noch Bedarf gibt für die Überkapazität industrieller Produktion, und wo die Preise noch nicht durch ausgedehnten Wettbewerbsdruck verdorben sind. Mit anderen Worten wird die Krise in eine Kolonie exportiert und vorübergehend gemildert, bis diese Kolonie auch nichts mehr an niedrigen Löhnen, billigen Rohstoffen und so weiter zu bieten hat, das heißt, wenn ihr all sein sozialer, kultureller, natürlicher und spiritueller Wohlstand genommen wurde. Irgendwann gehen den entwickelten Nationen die Kolonien aus; dann, so sagen die Marxisten, werden wir schließlich unsere Revolution haben.

Von den klassischen marxistischen Denkern unerkannt gab es ein andere Art des Kolonialismus, der gleichzeitig mit dem geographischen geschah: die Kolonisierung nicht physischer Territorien. Die Natur des Finanzkapitals, die fest hineingeschrieben ist in unser gegenwärtiges Geldsystem, welches selbst eine Projektion dessen ist, wie wir das Universum verstehen, erfordert ein fortwährendes Wachstum. Die Aufrechterhaltung der Wachstumsmaschine erfordert, dass fortwährend neue Quellen des Bedarfs gefunden werden. Diese können für existierende Produkte in anderen Ländern gefunden werden; alternativ kann daheim neuer Bedarf geschaffen werden, indem man „unbefriedigte Bedürfnisse“ (wie man sie in der Standardwirtschaftswissenschaft nennt) entdeckt. Aber was ist ein unbefriedigtes Bedürfnis? Gewöhnlich ist es ein schon existierender Aspekt unserer Menschheit – es ist eigentlich nicht neu – aber dieser Aspekt lag bisher außerhalb der Geldwirtschaft. Es ist also eine Form des Wohlstands, der noch nicht zu Geld gemacht wurde.

William Greider, Daniel Korten und viele andere argumentieren überzeugend, dass die Krise des Kapitalismus schon jetzt im Gange ist. Besonders Greider gab schon 1998 eine klare Sicht auf all die Elemente der Marxschen Krise: Überproduktion, sinkende Gewinne, Konzentration von Eigentum und die globale Abwärtsspirale bei den Löhnen48. Erst zwölf Jahre später setzt die deflationäre Depression, vor der er gewarnt hat, langsam ein – und diese Verzögerung haben wir nicht der Tatsache zu verdanken, dass Regierungen seine Empfehlungen umgesetzt hätten. Vielleicht liegt Greider vollkommen richtig, er hat bloß die nicht geografischen Bereiche unterschätzt, die noch nicht vollkommen kolonisiert wurden.

Die Lösung der Sozialisten für die Marxschen Krisen scheitert, weil sie nicht an die Wurzel des Problems geht, die nicht das Privateigentum ist, sondern vielmehr das Konzept des Eigentums überhaupt. Und das Konzept des Eigentums selbst hängt, wie wir gesehen haben, von unserer Selbst-Definition ab und davon, wie wir die Welt verstehen. Gier, Wettbewerb, Angst und Knappheit sind fest verbunden mit unserer Kosmologie und unserer Wissenschaft, und sie werden nicht verschwinden, bis die anderen Teile des Musters sich auch ändern. Im besonderen werden sie nicht verschwinden, wenn wir Welt, Natur, Sprache, Denken und Idee als Dinge betrachten, die abgetrennt und als Objekte besessen werden können.

Die Eigenschaften des Kapitals, auf denen Marx seine Theorie basieren lässt, stammen ab von den Eigenschaften des gegenwärtig dominierenden Geldsystems, welches sich durch eine „knappe“, zinsbringende, von Banken erschaffene Währung auszeichnet. Ganz andere wirtschaftliche Dynamiken würden sich aus einem Geldsystem mit anderen Eigenschaften ergeben, und ein anderes Geldsystem wird natürlich hervorgebracht aus einem anderen Verständnis der Welt und einer anderen Beziehung zu ihr. Eine ganz andere Art des Kapitalismus, auf den Marx’ Dynamiken nicht anwendbar sind, wird entstehen, welcher die Kooperation über den Wettbewerb, das Teilen über die Ausbeutung und die Gemeinschaft über die Trennung stellen wird; ein Kapitalismus also, der all die nicht monetären Formen des Wohlstands wertschätzt und entwickelt. Es wird ein System sein, das uns reicher macht an Leben, statt ärmer an Leben und reicher an Geld. Und ganz wichtig, es wird ein System sein, das nicht im üblichen Sinne konstruiert ist, sondern dem es erlaubt ist, organisch zu wachsen. Das ist die wahre Revolution: nicht ein oberflächlicher Umsturz irgendwelcher Mächte, die gerade am Drücker sind, sondern ein radikal neues Verständnis von Selbst und Welt. Marx kritisierte die bourgeoisen Revolutionen in Amerika und Frankreich als bloße Ersetzungen einer Gruppe von Eigentümern durch eine andere. Ist nicht aber seine Revolution ebenso oberflächlich und lässt sie nicht das Konzept des Eigentums, die Dualität von Arbeit und Freizeit, die Ideologie des Wachstums und die Annahme menschlicher Dominanz über die Natur unangetastet?

Warum ist eine so tiefgreifende Revolution notwendig? Die Geschichte der Technologie ist mindestens seit der Agrikultur und vielleicht auch seit den vormenschlichen Technologien von Feuer und Stein eng verbunden mit der wachsenden Objektivierung der Welt. Wir trennen uns konzeptuell von der Umwelt, um sie zu manipulieren; genauso spornt unsere erfolgreiche Manipulation der Umwelt unsere konzeptuelle Trennung an. Das Konzept des Eigentums folgt natürlich auch solch einer Objektivierung, und die Art des Geldes, das wir heute haben, entsteht natürlich auch aus solchem Eigentum, das Mein ist und nicht Dein, das angehäuft und gemessen werden kann. Es ist unsinnig zu denken, dass irgendein anderes System außer dem jetzt bekannten Kapitalismus auf solch einem vorgegebenen Fundament entstehen könnte.

Eine Revolution, die unsere Auffassung vom Selbst und der Welt unangetastet lässt, kann nichts anderes bewirken, als eine vorübergehende, oberflächliche Veränderung. Nur eine viel tiefgreifendere Revolution, ein Neuerfindung von uns selbst und wer wir sind, kann die Krisen unseres Zeitalters umkehren. Glücklicherweise ist diese tiefste aller möglichen Revolutionen, um Marx’ Sprache zu benutzen, unvermeidlich, und sie ist unvermeidlich aus eben jenen Gründen, die Marx vorher sah. Die Umwandlung allen anderen Kapitals zu Geld kann nicht endlos aufrecht erhalten werden. Eines Tages geht ihr der Saft aus. Wenn das geschieht, wird unsere Verarmung sich verstärken. Not und Verzweiflung wird alle Maßnahmen zu deren Unterdrückung oder Betäubung überwinden. Wenn zuletzt die Vergeblichkeit der Wirklichkeitskontrolle offenbar wird, wenn zuletzt die Last der Aufrechterhaltung eines künstlichen Selbst getrennt von der Natur nicht mehr tragbar wird, wenn wir zuletzt begreifen, dass unser Wohlstand unser Leben zu Grunde gerichtet hat, dann werden Millionen kleine Revolutionen zusammenfinden zu einer überwältigenden planetaren Verschiebung, einem schnellen Phasenübergang in eine neue Art des Seins.

Es wird passieren – muss passieren – vielleicht früher als wir denken. In der Tat passiert es schon. Unser soziales, natürliches, kulturelles und spirituelles Kapital ist fast erschöpft. Diese Erschöpfung erzeugt Krisen in allen Bereichen des modernen Lebens, Krisen, die scheinbar unverbunden sind, die aber allesamt aus der Monetarisierung unseres Lebens entstehen oder, noch grundlegender, aus unserer fundamentalen Verwirrung darüber, wer wir sind, und aus unserer Trennung von der Natur, von uns selbst und voneinander. Das ist die Verbindung zwischen solch unterschiedlichen Phänomenen, wie dem Ölfördermaximum49, der Epidemie von Autoimmunkrankheiten, globaler Erwärmung, Waldsterben, Überfischung, Bildungskrise und der drohenden Ernährungskrise. Sowohl die Monetarisierung als auch die Trennung nähern sich ihrem Höhepunkt, ihrer größtmöglichen Extreme. Ersteres bedeutet den Abschluss der Umwandlung von Gemeinwohl zu privatem Wohlstand, letzteres bedeutet ein Gefühl vollständiger Isolation und Entfremdung, welche durch die Weltsicht Darwins und Descartes nahegelegt wird: das nackte, materielle Selbst in einer Welt aus Zufall und Determinismus, wo Sinn, Bedeutung und Gott wegen der Natur der Wirklichkeit nichts anderes sind, als wahnhafte Selbsttäuschungen in der Vorstellung.

Paradoxerweise wird aus der Erfüllung dieser Extreme (von denen jedes Grund und Aspekt des jeweils anderen ist) deren Gegenteil geboren. Wenn das Yang sein Extrem erreicht, gebiert es Yin. Die Erschöpfung des sozialen Kapitals startet die Revolution, die es zurück fordern wird. Die Agonie der Trennung gebiert die Kapitulation, die uns für die größeren Versionen von Selbst, Natur und Leben öffnet. Aber das Extrem muss erreicht werden.

Wie jeder Umweltforscher weiß, ist es sicher, dass sich die Dinge für den Großteil der Menschheit erstmal verschlechtern werden, bevor sie sich bessern. Bestimmte Kräfte müssen sich austoben. Der gegenwärtige Anstieg spirituellen, humanitären und ökologischen Bewusstseins wir uns nicht retten, nicht, weil es zu spät ist (was stimmt), sondern weil der Kurs der Trennung noch nicht sein Finale erreicht hat.

Wie bei einem Alkoholiker, dessen Ressourcen an Wohlwollen, Geld, verpfändbarem Besitz, Freunden und Glaubwürdigkeit fast erschöpft sind, befindet sich unser Lebensweg am Rande des Zusammenbruchs. Wir stolpern weiter, indem wir immer neue technologische Lösungen mit immer größeren Kosten verwenden, um die Probleme der letzten Lösung zu mildern. Der Süchtige wird süchtig bleiben, bis das Leben vollkommen untragbar wird. Ökologisches Bewusstsein, lokales Denken, grüne Technologie, Kräuterheilkunde, Alternativwährungen, ökologisch fundierte Wirtschaftsweise sind allesamt wie die lichten Momente des Trinkers auf dem Weg nach unten. Sie werden uns weniger retten, als vielmehr rettende Samenkörner sein für eine neue Art zu leben und zu sein nach dem großen Kollaps. Sie werden in der Tat alle von allein kommen, wenn dann nur noch irgend etwas übrig ist.

48 Greider, William, „One World, Ready or Not“

49 Peak oil ist die Tatsache, dass die Ölproduktion demnächst ihren Gipfel erreichen wird oder ihn gar schon erreicht hat. Geologen aus der Ölindustrie sind sich nahezu einig, dass neue Funde keinesfalls mit der Geschwindigkeit der Erschöpfung alter Quellen Schritt halten kann. Mehr Details dazu sind hier zu finden: www.energiekrise.de

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1998-2011 Charles Eisenstein