Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein

Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters

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Inhaltsverzeichnis:


Wahrheit ohne Gewissheit

Wenn Teilchenphysik das Fundament des in Kapitel III beschriebenen reduktionistischen Programms ist, dann sind Mathematik und formale Logik der Grundfels, auf dem dieses Fundament ruht. Um das Technologische Programm totaler Kontrolle wahrhaft zu erfüllen, müssen wir uns zuerst des Wissens gewiss sein, so dass Ergebnisse unbeeinflusst von Erwartungen folgen, Schlüsse unbeeinflusst von Prämissen und Funktionalität unbeeinflusst von Design. Wenn eine Maschine nicht funktioniert oder ein Entwurf versagt, dann kann das so gesehen nur sein, wenn eine Variable unkontrolliert geblieben ist, das heißt, das Wissen über die Eingangsbedingungen war unvollständig. Wenn jeder Faktor einbezogen, jede Variable gemessen, jede Kraft in einer mathematischen Gleichung eingefangen wurde, dann ist die Vorhersagbarkeit eines physikalischen Systems nicht weniger zuverlässig als die Mathematik, die ihr zu Grunde liegt.

Doch wie verlässlich ist diese Mathematik? In einer Zukunft, wie Leibniz und Laplace sie sich vorstellten, in der jede linguistische Bedeutung vollständig präzis, alle Wissenschaft völlig mathematisiert ist, kann jeder Disput mit geradliniger Berechnung zweifelsfrei und ohne Streit gelöst werden, und alle Wahrheit der Natur wird offen zutage liegen. Mathematik ist immerhin der Inbegriff von Gewissheit, wo Schlüsse nicht aufgrund von Überzeugungsarbeit gezogen werden, sondern durch den formalen, deduktiven Beweis, der unbestreitbar ist, solange die Logik selbst nicht verletzt wurde. Aber woher wissen wir, dass die Mathematik einwandfrei ist? Woher wissen wir, dass in den arithmetischen Axiomen keine Widersprüche vergraben liegen? Und gleichermaßen wichtig, woher wissen wir, dass alle Wahrheit ausgehend von diesen Axiomen gefunden werden kann? Da die Physik auf axiomatischen Füßen steht und immer mehr Wissensfelder sich zwecks Legitimation auf die Mathematik berufen, bekam diese Frage gegen Ende des 19. Jahrhunderts zunehmend Gewicht.

Die axiomatische Methode, die mit Euklid begann, ist heute in die Auffassung von wissenschaftlicher Strenge eingebettet. Sie beginnt mit ausdrücklichen Definitionen der benutzten Ausdrücke und Annahmen, von denen man ausgeht. Immerhin, wie könnte Logik zuverlässig sein, wenn ihre eigenen Fachwörter mehrdeutig wären? Man geht von grundlegenden Definitionen und Prämissen aus und baut auf diesen auf. In der Mathematik ist die Notwendigkeit des axiomatischen Ansatzes durch mehrere Paradoxien in der Mengenlehre gezeigt worden, welche die letztliche Unvereinbarkeit naiver (nicht-axiomatischer) Definitionen einer Menge veranschaulichten. Zum Beispiel Russels Paradoxon: die Menge aller Mengen, die nicht Teil ihrer selbst sind. Ist jene Menge in sich selbst enthalten? Per Definition ist sie nicht enthalten, wenn sie es ist, und wenn sie es ist, ist sie es nicht. Daher die Notwendigkeit für Axiome, die definieren, was eine Menge ist und was nicht. Axiome wurden auch für die Arithmetik formuliert: Naiverweise glauben wir, dass wir wüssten, was Addition und Multiplikation ist, aber stimmt das? Die arithmetischen Axiome definieren sie formal.

Das Programm, die gesamte Mathematik (und implizit schließlich die gesamte Wissenschaft) auf feste axiomatische Beine zu stellen, wurde vom französischen Mathematiker David Hilbert formuliert, und sein Höhepunkt wäre der Beweis gewesen, dass solche Axiom-Systeme (speziell arithmetische) sowohl zuverlässig als auch vollständig seien. Zuverlässig hieße, dass keine Widersprüche aus ihnen hervorgehen; vollständig hieße, dass alle wahren Aussagen durch sie bewiesen werden können. Zu jener Zeit schien es intuitiv offensichtlich: Sicher ist alles Wahre auch beweisbar. Woher wüsste man sonst, dass es wahr ist? Wie könnte man es von anderen Behauptungen unterscheiden? In gewissem Sinn hing das gesamte cartesianische Streben, die „Herren und Besitzer der Natur“ zu werden, vom Vollständigkeitsbeweis ab, denn er würde begründen, dass kein Geheimnis, keine Wahrheit jenseits des Bereichs menschlicher Logik wäre. Von einem formalen Axiomsystem ausgehend kann man den Regeln der Logik folgend mechanisch und ohne zu denken alle möglichen Beweise von diesen Axiomen ableiten. Ein Computer könnte das. Und obwohl Computer um 1900 nicht existierten, schien die mechanische Natur des axiomatischen Beweises die Erfüllung der Leibnizschen Vision zu versprechen. Um jeden Streit beizulegen und in der Tat schließlich bei der Wahrheit anzukommen, müssten wir nur sagen: „Lasst uns rechnen“.

Stell dir dann das Gefühl der Fassungslosigkeit vor, das Gödels berühmtem Unvollständigkeitstheorem von 1931 folgte, das jede Hoffnung zerstörte, Hilberts Programm je abzuschließen. Üblicherweise wurde es in der populären Literatur als Beweis präsentiert, dass „wahre arithmetische Aussagen existieren, die nicht von den Axiomen her bewiesen werden können“, doch Gödels Theorem ist eigentlich etwas ausgefeilter. Ich werde das Theorem hier etwas ausführlicher behandeln, weil seine Feinheiten sowohl direkte als auch metaphorische Folgen für das Wissenschaftliche Programm und das Technologische Programm haben.

Das Auseinanderlaufen von Wahrheit und Beweisbarkeit in Gödels Theorem kann nur im Zusammenhang mit der Unterscheidung zwischen formaler Theorie und der Interpretation dieser Theorie verstanden werden. Eine formale Theorie ist die Menge aller Theoreme, die von einem gegebenen Satz an Axiomen entsprechend den üblichen Regeln der Logik ableitbar ist. Ihre Interpretation ist das reale oder abstrakte System, das die Theorie beschreibt.

Um ein vertrautes Beispiel zu nehmen: Euklids geometrische Axiome erschaffen eine Theorie, von der eine Interpretation die idealen Linien, Punkte, Winkel usw. sind, die man auf eine ebene Fläche zeichnet. Eine Interpretation der arithmetischen Theorie ist die Menge natürlicher Zahlen, die wir zum Zählen, Addieren und Multiplizieren verwenden. Beweisbarkeit ist eine Eigenschaft von Sätzen, die in der formalen Sprache der Theorie geschrieben worden sind; Wahrheit ist eine Eigenschaft ihrer Gegenstücke in der realen Welt. Beispielsweise ist der Satz x,y : xy = 0 =⇒ x = 0 y = 0 in der formalen Sprache aus sieben Grundaxiomen der formalen Arithmetik (namens Q) und ihrer Interpretation beweisbar. „Wenn das Produkt zweier Zahlen Null ist, dann muss wenigstens eine der beiden Null sein“ ist wahr in der Arithmetik des wirklichen Lebens. Diese Behauptung erscheint ziemlich offensichtlich, doch wie kann man sich sicher sein? Anders ausgedrückt: Wie können wir es beweisen? Nur indem wir ein Beispiel der wirklichen Welt in eine Theorie fassen, eine in Axiome gebettete Definitionsmenge (beispielsweise: „dies ist, was Multiplikation wirklich bedeutet“).

Es ergibt sich schließlich die Frage, woher wir wissen können, ob die Theorie wirklich vollständig zur Interpretation passt. Tatsächlich sind die sieben Q-Axiome so minimal, dass es unmöglich ist, grundlegende arithmetische Tatsachen wie a,b : a + b = b + a zu beweisen. Es ist von Q aus unmöglich zu beweisen, dass man schließlich jede Zahl erhalten kann, wenn man von Null zu zählen anfängt. Solche Schwierigkeiten löst man jedoch einfach, indem man sie als neues Axiom hinzufügt. Das letzte Ziel von Hilberts Programm und natürlich des Wissenschaftlichen Programms der vollständigen Erkenntnis ist es, alle unbeweisbaren Aussagen, deren Interpretationen wahr sind, als Axiome hinzuzufügen. Man hätte dann eine vollständige Axiomatisierung der Wirklichkeit, die endgültige Umwandlung der Natur in Zahlen. Der getrennte menschliche Bereich würde schließlich die gesamte Wirklichkeit umfassen.

Gödel hat bewiesen, dass dies unmöglich ist, dass es unmöglich ist, genug Axiome hinzuzufügen, um jeden wahren Satz zu beweisen (das heißt jeden Satz, dessen Interpretation wahr ist). Unendlich viele Axiome wären erforderlich – doch das ist nicht mal das größte Problem. Das Problem besteht darin, dass es kein „wirksames Vorgehen“ gibt, um diese Unendlicheit herzustellen, kein endliches Mittel, das die Theorie vervollständigt. Man kann nicht sagen: „Jeder Satz, der in dieser und jener Interpretation wahr ist, ist ein Axiom“, denn man kann nicht herausfinden, welche Sätze es sind.

Mit anderen Worten: Notwendigerweise fehlt etwas in der mathematischen Beschreibung der Wirklichkeit. Es gibt kein endliches Mittel, das alle Wahrheiten in einem System aus Bezeichnern und Quantitäten (was ein „formales System“ im Grunde ist) umfasst. Sogar ohne die Quantenunbestimmtheit war das Wissenschaftliche Programm von Anfang an zum Versagen verurteilt. Verloren ist auch das gesamte Konzept reduktionistischer Rationalität als sicherer Führer zur Wahrheit – eben der oben erwähnte Ansatz, bei dem jedes Problem angegangen wird, indem zuvor strenge Definitionen festlegt werden. Indem wir Wissen auf das eingrenzen, was bewiesen werden kann, schließen wir große Bereiche der Wahrheit aus.

Und schlimmer. Der oben genannte Stand der Dinge wäre hinnehmbar, wenn die verbliebenen unerreichbaren Wahrheiten unwichtig wären, erfundene arithmetische Sätze wie jener, den Gödel für seinen Beweis konstruiert hat. Doch wie bald durch die Arbeit Turings, Posts und etwas später Gregory Chaitins ersichtlich wurde, geht es nicht nur um einige wenige dunkle Ecken der Mathematik, die für Beweise unzugänglich sind, sondern um die überwältigende Mehrheit mathematischer Fakten.

Die ganze Idee vom rationalen Verstehen ist die Reduzierung des Komplexen auf das Einfache, um die den Dingen zugrunde liegenden „Ursachen“ zu finden. Das bezeichnendste Beispiel hierfür ist die Reduzierung der komplexen Himmelsbahnen der Planeten auf Newtons universelles Bewegungsgesetz. Was Turing nun bewies, ist, dass es wichtige mathematische Fragen gibt, die nicht auf diese Weise beantwortet werden können, sondern nur im Sinne von „weil es eben so ist“. Sein bekanntes Halteproblem zeigte, dass es kein generelles Mittel gibt, um zu bestimmen, ob eine zufällige Turing-Maschine (ein idealer Computer) nach einer bestimmten Eingabe schließlich anhalten wird – kein Mittel heißt das, außer es tatsächlich auszuprobieren.6 Es gibt spezifische Methoden für einige Turing-Maschinen, aber keine universelle Methode, keine letzte Formel oder Menge von Anweisungen, nichts was man einem Computer einprogrammieren könnte. Es kann keine allgemeine Theorie geben, warum Turing-Maschinen anhalten. Chaitin hat dieses Ergebnis sogar noch um die Beobachtung erweitert, dass fast alle mathematischen Fakten unbeweisbar sind und, schlimmer noch, dass mathematische Wahrheit im Rahmen der algorithmischen Informationstheorie zufällig ist.7 Man kann sich keinen Reim auf die Wahrheit machen; nichts was sich in endlichen Standardausdrücken verstehen ließe, welche man braucht, um die Wirklichkeit in den Bereich menschlicher Kontrolle zu bringen.

Die Mathematik hat das Schicksal des uralten Versuchs besiegelt, die chaotische, unvorhersagbare Wirklichkeit durch eine kontrollierbare, künstliche Version zu ersetzen. Wie genau auch immer wir die Realität abbilden, wie ausgetüftelt unsere Modelle sein mögen, es wird immer etwas fehlen, und diese Beschränktheit ist Teil des Abbilds selbst. Natürlich kann ein Abbild, eine Menge von Definitionen, ein Axiom-System nützlich sein, aber wenn wir es mit dem wahren Gegenstand verwechseln, dann sind wir in einer endlichen selbstgemachten Welt gestrandet, einer Projektion unserer eigenen Annahmen, einer winzigen Teilmenge der Wahrheit, von Anfang an dadurch eingeschränkt, was wir für selbstverständlich halten. Chaitin drückt es so aus: „Mit anderen Worten spiegelt das gegenwärtige mathematische Abbild das wider, womit unsere Werkzeuge derzeit fertig werden, nicht was wirklich da draußen ist“.8 Wegen der Blendung durch unsere Annahmen schweben wir in Gefahr, tatsächliche Erfahrungswerte mit dem Gedanken abzutun: „Es ist nicht wahr, denn es kann nicht wahr sein.“ Genau das ist in vielen Bereichen der Wissenschaft geschehen, die so in ihren Prinzipien versumpft sind, dass sie keine „anomalen“ Erscheinungen dulden können, egal wie gut diese dokumentiert sind.

Wir begehen einen ähnlichen Fehler im Alltag, wenn uns Überzeugungen für Erfahrungen blind machen. Denk beispielsweise an das scheue Mädchen, das so überzeugt ist, für Jungs unattraktiv zu sein, dass sie deren Avancen nicht wahrnimmt, Briefe geheimer Verehrer als Spott deutet und Komplimente als mitleidige Aufmunterungsversuche.

Die Ergebnisse von Gödel, Turing und Chaitin legen einen anderen Weg nahe, nach Wissen zu streben, der Nützlichkeit der Gewissheit voranstellt. In Abwesenheit unwiderlegbarer Wahrheiten „da draußen“ bekommt die Beziehung des Fragestellers zur Welt höchsten Rang. Der Mathematiker kann einem formalen System neue Axiome hinzufügen und diese entweder mit dem rechnerischen Beweis oder lediglich durch die Attraktivität der bewiesenen Ergebnisse rechtfertigen. So schleicht sich Subjektivität wieder in die Mathematik. Ein Theoriekörper leitet sich ab von den Axiomen der Mengenlehremit dem Auswahlaxiom; ein anderer ohne es; ein Theoriekörper leitet sich durch Hinzufügen der Kontinuums-Hypothese als Axiom ab, eine andere durch Hinzufügung ihrer Negation. Bei Berechnungen bestimmter Probleme ergeben sich viele Ergebnisse aus der Annahme, dass es keinen Polynomialzeitalgorithmus zur Lösung bestimmter NP-volständiger Probleme gibt; diese Annahme wird allgemein akzeptiert aufgrund rechnerischen Beweises und wiederholter Enttäuschung größter mathematischer Anstrengungen, einen Polynomialzeitalgorithmus zu finden.9 In der Geometrie bietet die Einbeziehung nicht-euklidischer Axiome ein Werkzeug zum Verständnis gebogener Raum-Zeit, genau wie die euklidischen Axiome Geometrie auf einer flachen Ebene beschreiben. Wir können spielerisch verschiedene Axiomsysteme ausprobieren, um verschiedene Beschreibungen der Realität, von Teilen der Realität oder Aspekten des Universums zu erhalten.

Solltest du, mein lieber Leser, dich in diesen Komplexitäten verloren haben, so lass mich das Schlüsselargument noch einmal betonen. Es lautet einfach, dass es sowohl in der Mathematik als auch in der Physik nicht immer eine Ursache für etwas gibt. Manchmal sind Dinge einfach, weil sie sind. Hast du je sagen hören: „Ach ja? Wenn das wahr ist, dann beweis es!“ Unbewusst haben wir gelernt, Wahrheit und Beweisbarkeit gleichzusetzen, wie wir gelernt haben, Logik höher zu bewerten als Intuition. Hilberts Programm war lediglich eine Manifestation unserer Suche nach Gewissheit, nach einer unbestreitbaren Quelle der Wahrheit außerhalb unser selbst. Derselbe Impuls liegt der allgegenwärtigen Erhöhung von „Experten“ in unserer Gesellschaft zugrunde, sowie der Überantwortung von immer mehr unserer Autonomie an externe Autoritäten. Er liegt auch vielen religiösen Kulten zugrunde, in denen Gewissheit vom Guru kommt, gleichermaßen dem christlichen Fundamentalismus, der eine weitere externe Autorität, die Bibel, als unbestreitbare Wahrheitsquelle zu Rate zieht. Die Doktrin biblischer Unfehlbarkeit ist das religiöse Gegenstück zum wissenschaftlichen Streben nach Axiomatisierung der Wirklichkeit. Hier ist Gewissheit! Man muss nicht länger in sich selbst nach der Wahrheit suchen – sie wurde vollständig schwarz auf weiß bereitgestellt. Wir sind keine göttlichen Schöpfer unserer Welt mehr, nur noch Empfänger, nur Konsumenten.

Heute ist alle Hoffnung, jemals solche Gewissheit zu erlangen, am Ende. Natürlich können wir uns wie der christliche Fundamentalist, der Kultanhänger oder der dogmatische Wissenschaftler entscheiden, in unseren Axiomsystemen eingerichtet zu bleiben und uns weigern, irgendeine Wahrheit zu ergründen, die außerhalb davon liegt. Aber solche Gewissheit hat einen hohen Preis: Isolation, Stagnation und Abgeschnittenheit von neuen Welten des Wissens und der Erfahrung. Der Zerfall der Gewissheit ist in der Tat unglaublich befreiend. Seine Wirkung ist ähnlich jenen des Versagens von Determinismus und Objektivität im Bereich der Physik. Die Wahrheit wie auch das Sein hört auf, eine unabhängige Qualität getrennt von uns selbst zu sein. Beide fangen erst als Beziehung an, Sinn zu ergeben. Was bedeutet Wahrheit, wenn sie geschieden von logischer Gewissheit, geschieden vom Beweis ist? Die einzig befriedigende Antwort, die ich gefunden habe, ist, dass Wahrheit ein Zustand der Integrität ist. Wenn man mit zwei verschiedenen Interpretationen einer Erfahrung konfrontiert ist, dann ruft uns die neue Metapher dazu auf, statt immer mehr Beweise für die beiden Möglichkeiten zu sammeln, uns einfach die eine oder andere auszusuchen, je nachdem welche im besseren Einklang zu all dem steht, was wir sind – und wichtiger – was wir versuchen zu sein. Indem wir Wahrheiten wählen, erschaffen wir, wer wir sind.

Klingt diese Aussage für dich gefährlich? Scheint sie zuzulassen, dass wir schnell und locker mit der Wahrheit spielen, Beweise ignorieren und blind eine eigennützige Auslegung der Wirklichkeit aufrecht erhalten? Erlaubt sie uns alles zu rechtfertigen, was wir wollen, indem wir sagen: „Das ist meine Wahrheit“?

In Wirklichkeit hat sie den gegenteiligen Effekt. Wenn wir die Wahrheit bewusst auswählen, im Wissen um Selbst-Definition, nimmt diese Wahl ein Gewicht an, welches gewöhnlichen Gründen und Rechtfertigungen fehlt. Wenn wir Wahrheit als eine schöpferische Wahl begreifen, werden wir um so bewusster wählen. Auf unsere mathematische Metapher angewendet ist Wahrheit eine Eigenschaft einer Interpretation unserer Welt; diese Interpretation wiederum erschafft neue zu ihr passende Erfahrungen. Unsere Wahl der Wahrheiten, nach denen wir leben, besitzt weltschöpferische Macht.

Wir könnten die Suche nach Wahrheit, ob inner- oder außerhalb der Wissenschaft, nicht als ein Einfangen von immer mehr Fakten betrachten, nicht als wachsende Gewissheit bezüglich der Welt, sondern eher als einen Pfad des Selbstverständnisses und bewusster Kreativität. Wenn Wahrheit wie in der Mathematik oft außerhalb von Gewissheit liegt, sogar außerhalb der Vernunft, wie verstehen wir sie dann? Wie wählen wir zwischen einer Überzeugung und ihrem Gegenteil? Alles, was uns bleibt, ist Integrität, die wir klarstellen können, indem wir fragen: „Bin das ich? Ist dies das Universum, in dem ich leben möchte? Ist dies die Wirklichkeit, die ich erschaffen möchte?“ Wir sind keine eigenständigen Beobachter, getrennt vom Universum, das wir beobachten und nur entdecken können, was ist. Wir sind Schöpfer.

Lass mich ein Beispiel geben. Durch ein paar persönliche Erfahrungen und ausgiebiges Lesen bin ich mit vielen Phänomenen in Berührung gekommen, welche die konventionelle Wissenschaft nicht akzeptiert. An einem bestimmten Punkt war ich mit einer Glaubenskrise konfrontiert, einer Wahl zwischen zwei verschiedenen Interpretationen, die beide logisch stimmig waren. Sie gingen etwa so: (1) Meine körperliche Erfahrung mit Qi war eine Phantasie, die mir durch die ungewöhnlichen Umstände der Aufregung und des Kulturschocks in Taiwan eingegeben worden ist. Die hunderte von scheinbar normalen, aufrichtigen und demütigen Praktiker waren alle gleichermaßen irregeleitet, außer jenen, die bewusst an einem Betrug teilnahmen. Früher respektable oder sogar wichtige Personen wie John Mack, Roger Woolger, and Barbara Brennan, deren Bücher ich gelesen hatte, sind einer Art Demenz verfallen. Die vielen scheinbar integren Leute, die Geschichten wundersamer Zwischenfälle, unerklärlicher Erfahrungen, Geister usw. mit mir geteilt hatten, machten sich im Grunde einen Scherz mit mir, wollten als etwas Besonderes erscheinen, hungerten nach Aufmerksamkeit, und ich muss wohl ein schlechter Menschenkenner gewesen sein. Mein Leben ist voller Fopper, Betrüger, Fälscher, Lügner und psychisch Instabiler. Anscheinend belügt mich meine eigene Frau sogar ohne Grund über die außerordentlichen Erfahrungen, die sie Jahre zuvor gehabt haben soll. Wenn ich es nur versuche, kann ich ein Glaubenssystem zusammenschustern, in dem keines dieser „unwissenschaftlichen“ Vorkommnisse jemals wirklich geschieht. (2) Diese Erfahrungen, die ich hatte, von denen man mir erzählt hat und über die ich gelesen habe, sind so wirklich wie jede andere. Die Menschen in meinem Leben sind im Allgemeinen, was sie scheinen und nicht krankheitshalber von Konfabulation, selektiver Erinnerung und triebhafter Lüge Geplagte. John Mack hat seine Bücher über Entführungen durch Außerirdische nicht geschrieben, weil ihm sein Status als Harvard-Professor nicht gut genug gewesen wäre und weil er Bekanntheit und Berühmtheit suchte. Bedeutende Wissenschaftler werfen ihre Karrieren normalerweise nicht für die vergebliche Jagd nach rein imaginären Psi-Phänomenen fort. Und meiner eigenen Erfahrung nach habe ich gesehen, was ich gesehen und gefühlt habe. Und schlussendlich muss ich, wenn ich all das glaube, auch glauben, dass der gesamte wissenschaftliche Korpus grundsätzlich unvollständig ist.

Keine der beiden Auslegungen leidet an irgendeiner internen logischen Inkonsistenz. Wie das scheue Mädchen kann ich alle Daten in eine von vielen Interpretationen, eines von vielen Universen einpassen. Sogar Occams Rasiermesser kann mich nicht immer retten – es ist oft „einfacher“, unbequeme Tatsachen unter einem Vorwand abzutun. Indem ich eine Wahrheit wähle, wähle ich, in welchem Universum ich leben werde und drücke mir selbst und der Welt gegenüber aus, wer ich bin. Manchmal tue ich das sogar spielerisch, mit Forscher- und Entdeckergeist, beispielsweise wenn ich meine Tage eingetaucht in „skeptischen“ Schriften verbringe und beobachte, wie es meinen Geistes-, Gemüts- und Beziehungszustand verändert. Üblicherweise jedoch ist das Fortschreiten von einem Überzeugungszustand in einen anderen unbewusst, einer Logik unterworfen und ein jenseits meines Verständnisses ablaufender Prozess. Eine Wahrheit, die mir in der einen Daseinsstufe genützt hat, wird überflüssig, wenn ich mich auf einer anderen bewege. Und so ist das bei uns allen.

Gödels und Turings Arbeit hat für immer das babylonische Programm beendet, sich die Natur mit endlichen Mitteln anzueignen. Sie hat uns die Grenzen gezeigt, die Wirklichkeit auf Bezeichner und Zahlen reduzieren zu wollen und die Unmöglichkeit, der Wahrheit jemals Gewissheit aufzuzwingen. Wenn man sie metaphorisch versteht, deutet die mathematische Unvollständigkeit eine neue Art an, wie Wahrheit, Wissen und Glauben zu verstehen sei, nämlich als eine Art und Weise, sich mit dem Universum in Beziehung zu setzen und zu definieren, wer wir sind, und als ein Prozess gemeinsamer Erschaffung der Realität statt eines bloßen Aufdeckens und Katalogisierens dessen, was bereits da draußen vorhanden ist. Die Gewissheit ist fort, aber an ihrer Stelle haben wir Freiheit.

6 Und selbst dann weiß man es nicht sicher. Es ist sehr wohl möglich, dass wir nach einer Milliarde Schritten der Turing-Maschine lediglich wissen, dass sie während der ersten Milliarde Schritte nicht anhält.

7 Im Grunde bedeutet das, dass, wenn man eine zufällige Liste frei wählbarer mathematischer Wahrheiten hat, es im Allgemeinen keinen kürzeren Weg gibt, diese Liste zu beschreiben: Die Liste selbst ist an sich die kürzeste Beschreibung. Diese Ergebnisse sind ausführlich in Chaitins kontroversem Klassiker „Information, Randomness and Incompleteness: Papers on Algorithmic Information Theory“ dargelegt.

8 Chaitin, Gregory, Meta Math! The Quest for Omega, Pantheon, 2005. S. 20

9 Jonathon Borwein and David Bailey Mathematics by Experiment, A.K. Peters, 2003. S. 4-5. Es gibt momentan einen mathematischen Trend zur „experimentellen Mathematik“, welche die Gewissheit traditionellen analytischen Beweises unterläuft und stattdessen Einsicht durch numerische Methoden, also Computernutzung zu erhalten versucht. Es könnte gewisse Grundwahrheiten geben, die im gegenwärtigen Axiomsystem inhärent unbeweisbar sind, z.B. die Vermutung, dass alle irrationalen algebraischen Zahlen Borel-normal sind. Dies wurde rechnerisch für einige Zahlen bis in billionenstelligen Bereich bestätigt. Während experimentelle Mathematik auf den ersten Blick lediglich eine weitere Spielart des auf die Mathematik angewendeten Empirismus zu sein scheint und daher zur Baconschen Annahme eines objektiven Universums „da draußen“ passt, ist die Angelegenheit tatsächlich extrem kompliziert. Wenn die Nachkommastellen in gewissem Sinn zufällig sind, in welchem Sinne existieren sie tatsächlich, oder in welchem Sinn sind sie notwendigerweise, was sie sind, bevor man sie berechnet? Diese Frage ist nicht trivial, aber hier tiefer einzusteigen würde den Rahmen dieses Buches sprengen. Für philosophische Diskussion verwandter Themen verweise ich den Leser auf die Arbeiten von Gregory Chaitin.

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1998-2011 Charles Eisenstein