Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein

Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters

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Inhaltsverzeichnis:


Von der Trennung zur Langeweile

Der Aufstieg der Menschheit kommt zu einem Preis, und ich spreche hier nicht bloß von der Zerstörung der ökologischen Grundlage menschlicher Zivilisation. Unser trennungsgespeister Aufstieg fordert seinen Tribut nicht nur von den Verlierern, den Opfern von Kriegen, der Industrie und des Ökozids, sondern auch von den Gewinnern. Es ist der höchste aller Preise, den wir aus unserem ureigenen Sein bezahlen. Für alles, was wir im Äußeren erschufen, haben wir unsere Seelen kleiner gemacht.

Wenn wir unser Selbst von der Natur trennen, so wie wir es mit der Technologie getan haben, wenn wir wechselseitige Abhängigkeit durch „Sicherheit“ und Vertrauen durch Kontrolle ersetzen, dann trennen wir uns ebenso von einem Teil unseres Selbstes ab. Die Natur, intern und extern, ist kein selbstverständliches, aber ein praktisch notwendiges Anderes und dennoch untrennbarer Teil von uns. Der Versuch der Abtrennung kommt einer Verwundung gleich, die nicht weniger schwer ist, als risse man sich einen Arm oder ein Bein ab – in der Tat sogar schlimmer. Unter dem Wahn des abgegrenzten und getrennten Selbst sehen wir unsere Beziehungen als außerhalb dessen, wer wir im tiefsten Innern sind; wir sehen Beziehungen als Verbindungen einzelner Individuen. Doch in Wahrheit definieren unsere Beziehungen – mit anderen Menschen und dem ganzen Leben – wer wir sind, und, indem wir diese Beziehungen reduzieren, reduzieren wir uns selbst. Wir sind unsere Beziehungen.

Der Begriff der „wechselseitigen Abhängigkeit“, der ja eine bedingende Beziehung nahelegt, ist eigentlich noch ein viel zu schwaches Wort für die Nicht-Trennung von Selbst und dem Anderen. Meine Behauptung geht sehr viel weiter: das Selbst ist nicht absolut oder abgegrenzt, sondern verbunden, relational definiert und nur verschwommen abgesteckt. Es gibt kein Selbst, außer in Beziehung zum Anderen. Der Homo oeconomicus, der Rationale Mensch, das Cartesianische „Ich bin“ ist ein Wahn, der uns von dem meisten, was wir sind, abschneidet und uns einsam und klein zurücklässt.

Stephen Buhner nennt diese Kluft die „innere Wunde“ der Trennung. Weil sie mit unserer tiefsten Selbst-Definition verwoben ist, kann man ihr nicht entrinnen, außer vielleicht durch vorübergehende Zerstreuung, wobei sie allerdings im Innern weiter schwelt und auf die Gelegenheit wartet, ins Bewusstsein durchzubrechen. Die Trennungswunde hat viele Gesichter, von den belanglosen und doch beharrlichen Unzufriedenheiten, die sich, wenn sie beseitigt werden, in einer endlosen Tretmühle des Unbehagens schnell in andere ebenso belanglose Unzufriedenheiten verwandeln, bis hin zur zerstörerischen Schwindsucht der Hoffnungslosigkeit und der Verzweiflung, die unseren Geist buchstäblich verzehrt.

Der Schmerz aus der inneren Wunde nutzt alle möglichen Vehikel und äußert sich auf unzählige Arten: allgegenwärtige Einsamkeit, unangemessene Traurigkeit, ungerichtete Wut, nagende Unzufriedenheit, brodelnder Groll. Nicht um deren wahre Ursache wissend, schreiben wir sie anderen Quellen, der einen oder anderen Unvollkommenheit in der Außenwelt, zu. Wir suchen dann dem Schmerz zuvorzukommen, indem wir dessen Vehikel abstellen, indem wir das Leben unter Kontrolle bringen. In einer personalisierten Version des Technologischen Programms identifizieren wir das Glück mit der maximal möglichen Abdämmung von Gefahr, Schmutz und Unannehmlichkeit. Aber natürlich schottet uns diese Abdämmung noch weiter von der Welt ab und verschlimmert so die Trennung, der eigentlichen Ursache unseres Schmerzes.

Es gibt ein Sprichwort: „Versuche nicht die Welt in Leder zu hüllen – trage einfach Schuhe.“ Es ist ein spirituelles Klischee, dass das Glück nicht dadurch gefunden wird, dass wir die Welt derart umgestalten, dass uns alles entgegen kommt – ein solches Glück ist flüchtig und dem Untergang geweiht. Doch verhalten wir uns genau auf diese Weise, kulturell und individuell und die meiste Zeit. Eines Tages wird alles perfekt sein, wir werden fähig sein zu entspannen und sind für immer glücklich.

Die Vergeblichkeit des persönlichen und kollektiven Technologischen Programms der vollständigen Kontrolle wird unumstößlich demonstriert im Phänomen der Langeweile, die die Verfassung des Menschen ereilt, wenn das Technologische Programm erfolgreich ist. Was ist die Grundverfassung des Menschen, wenn alles unter Kontrolle ist, wenn kein persönliches Unheil unmittelbar droht? Was geschieht, wenn wir einfach nur dasitzen und nichts tun müssen, was getan werden müsste?

Langeweile ist dermaßen endemisch in unserer Kultur, besonders unter Jugendlichen, dass wir es schon als nahezu universellen Grundzustand der menschlichen Existenz ansehen. In Abwesenheit äußerer Reize sind wir gelangweilt. Allerdings ist, wie Ziauddin Sardar beobachtet, die Langeweile anscheinend einzig in der westlichen Kultur zu finden und damit immer mehr in der globalen Kultur, die von der westlichen zunehmend dominiert wird. „Beduinen“, schreibt er, „können stundenlang in der Wüste sitzen, das Kräuseln der Zeit beobachten, ohne Langeweile zu verspüren“18.

Woher kommt dieses Gefühl, das wir Langeweile nennen, die Unzufriedenheit darüber, unseren Geist nicht beschäftigen zu können? Langeweile – nichts tun – ist nicht tolerierbar, weil es uns die innere Wunde unmittelbar vor Augen führt. Langeweile, dieses Sehnen nach Stimulation und Zerstreuung, nach etwas, das die Zeit vergehen lässt, ist lediglich die Art, wie wir jegliche Pause erfahren im Programm der Kontrolle, das den Schmerz in Abrede zu stellen sucht. Ich will nicht nahe legen, dass wir die Ursachen für den Schmerz ignorieren. Schmerz ist ein Sendbote, der uns sagt, „Mach das nicht!“, und wir tun gut daran, es zu beherzigen. Aber wir gehen weit darüber hinaus, wenn wir annehmen dass, selbst wenn die Wunde geschlagen und der folgliche Schmerz real wird, wir immer noch und auf irgend eine Weise vermeiden können, ihn zu spüren. Ein Sprichwort aus dem chinesischen Buddhismus sagt: „Ein Boddhisatva vermeidet die Ursachen; die gewöhnliche Person versucht, die Folgen zu vermeiden.“

Anscheinend gab es das Konzept der Langeweile nicht einmal bevor das Wort etwa um 1760 erfunden wurde zusammen mit dem Wort „interessant“ 19. Die Woge der Langeweile, die seitdem stetig stieg, fiel zusammen mit dem Fortschritt der Industriellen Revolution und deutet damit eine Erklärung dafür an, warum es sich bis kürzlich um ein rein westliches Phänomen handelte. Die vom Fabrikwesen erzeugte Wirklichkeit war eine massenproduzierte, eine generische Wirklichkeit standardisierter Produkte, standardisierter Rollen, standardisierter Aufgaben und standardisierter Leben. Je mehr wir in dieser künstlichen Realität lebten, desto abgetrennter wurden wir vom grundsätzlich faszinierenden Bereich der Natur und der Gemeinschaft. Heute wenden wir in einem bekannten Muster weitere Technologie an, um die Langeweile zu lindern, die aus unserem Eintauchen in die Welt der Technologie resultiert. Wir nennen es Unterhaltung. Unterhalten zu werden bedeutet, ins Fernsehen, ins Spiel oder ins Kino versetzt zu werden. Es heisst, von deinem Selbst und der wirklichen Welt entfernt zu werden. Wenn einer Fernsehsendung dies erfolgreich gelingt, loben wir sie als unterhaltsam. Unser unstillbares Verlangen nach Unterhaltung deutet in Richtung einer Verarmung unserer Realität.

All diese Ursachen der Langeweile sind Abwandlungen der inneren Trennungswunde. Neben der Verarmung unserer Wirklichkeit ist es uns unangenehm, nichts zu tun, weil das moderne Leben von einer unbarmherzigen Angst dominiert wird. Diese entsteht aus dem Paradigma des Wettbewerbs, das unseren sozioökonomischen Strukturen zugrunde liegt und das, wie ich noch in Kapitel IV ausführen werde, in unser grundlegendes Selbstkonzept eingeprägt ist. Außerdem verlangen wir nach fortwährender Stimulation und Unterhaltung, weil wir uns in deren Abwesenheit mit uns selbst allein gelassen fühlen mit nichts, um uns vom Schmerz der Trennungswunde abzulenken. Und schließlich trägt die Technologie direkt zur Langeweile bei, indem sie uns mit einer endlosen Flut intensiver Stimulation bombardiert, die unsere Gehirne an ein hohes Erregungsniveau gewöhnt. Wenn diese Stimulation entzogen wird, leiden wir an Entzug. Wir sind abhängig von der künstlichen Menschlichkeit, die wir mit der Technologie erschaffen haben. Nun sind wir verdammt, diese aufrechtzuerhalten.

Dass wir unverarbeiteten Schmerz in uns haben, der auf einen leeren Augenblick wartet, um sich zu behaupten und gefühlt zu werden, ist nicht überraschend, da doch das wesentliche Gebot der Technologie in der Maximierung von Vergnügen, Behaglichkeit, Sicherheit und Schmerzvermeidung liegt. Der Drang, das Leben leichter, sicherer und bequemer zu machen, hat die Technologie von ihrem Anbeginn motiviert. Als der Erfinder der Levalloistechnik seine erste Speerspitze herstellte, haben seine Zeitgenossen diese Art der Steinbearbeitung enthusiastisch aufgegriffen, weil sie das Leben einfacher machte. Die neue Technik war deutlich effizienter. Als weiteres Beispiel haben wir heute Medizinschränkchen, um Technologie zur Linderung jeder Beschwerde, sei sie noch so gering, anzuwenden. Hast du einen Kater? Nimm ein Aspirin. Hast du eine laufende Nase? Nimm eine Erkältungsmedizin. Deprimiert? Trink etwas. Die zugrunde liegende Annahme besagt, dass Schmerz etwas ist, dass nicht gefühlt werden muss. Und die endgültige Erfüllung der Technologie wäre die Entdeckung eines Mittels, um Schmerz ein für alle Mal abzuschaffen.

Die Maximierung des Vergnügens und die Beseitigung von Schmerz treibt das Ziel des Technologischen Pogramms auf das logische Extrem. Eine Formulierung dieses Ziels in recht reiner Form ist David Pearces „Hedonistischer Imperativ“, welcher die vollkommene Beseitigung des Leidens durch Gentechnik, Nanotechnologie und Neurochemie verficht, durch die wir Schmerzrezeptoren ausschalten, Belohnungszentren im Gehirn stimulieren, so wie es heute schon durch das gesamte Medizinische System und deren Glückspillen vorgezeichnet ist. Die Stimmungsaufheller, vor allem die sog. „selektiven“ Serotonin-Wiederaufnahmehemmer, werden verschrieben unter der Annahme, dass die wirkliche Ursache mentalen Schmerzes niedrige Serotonin- und Noradrenalinkonzentrationen im Gehirn seien. Erhöhe die Konzentrationen dieser Neurotransmitter und der Schmerz verschwindet. Die Behandlung ist ein Erfolg.

Hinter der Annahme, der Schmerz müsse nicht gefühlt werden, liegen noch tiefere Annahmen, von denen eine die Unverbundenheit ist. Die niedrigen Serotoninkonzentrationen werden als vom gesamten Patienten isoliert betrachtet, wie ein defektes Teil an einem Auto. Diese mechanistische Betrachtungsweise verneint die organische Natur des Körpers, in welchem die Gesundheit eines jeden Teils die Gesundheit des Ganzen widerspiegelt. Sie verneint, dass es Gründe für das niedrige Serotoninniveau gibt und Gründe für die Gründe, die sich erweitern, um das gesamte Sein des Patienten zu umfassen.

Eine weitere mit der Unverbundenheit zusammenhängende Annahme besagt, dass wir in einem toten und sinnlosen Universum leben. Ereignisse geschehen letztendlich zufällig; es gibt kein orchestrierendes Ziel, welches jedes Ereignis bedeutsam und richtig machen würde. Depression dient keinem höheren Sinn, weil es einen solchen Sinn nicht gibt, keinen Grund außer den identifizierbaren, mechanistischen Grund und folglich keinen Grund anzunehmen, der Schmerz würde in anderer Form zurückkehren, wenn ihm der eine Weg versperrt ist. Die Wirklichkeit ist unendlich handhabbar.

Wenn wir hingegen die Technologie – sowohl auf der persönlichen, als auch auf der kollektiven Ebene – nicht als ein Mittel sehen, Schmerz zu beseitigen, sondern ihn aufzuschieben, dann müssen wir davon ausgehen, dass er in jedem leeren Augenblick auf uns warten wird. Und das umso mehr, wenn der eigentliche Versuch des Schmerzaufschubs neuen Schmerz erschafft: die neuen Probleme, die durch Technologie entstehen, die Symptome, die durch das Medikament entstehen.

In einem verbundenen, sinnvollen Universum ist die Schmerzbehandlung vergleichbar mit dem Stopfen eines undichten, unter Druck stehenden Rohrs. Stopft man eine Leck, so führt das sicher zu einer Undichtigkeit an anderer Stelle. Währenddessen steigt der Druck stetig an. Der Apparat der Zivilisation bekommt ein Leck nach dem anderen, während wir aufgeregt versuchen, die sich ausbreitenden Risse zu versiegeln.

In einem jüdisch-christlich-muslimischen Kontext wird gesagt, die Trennung von Gott, der Sündenfall, sei die Quelle allen Leids. Der Buddhismus nennt Anhaftung als die Wurzel des Leidens, doch sorgfältige Untersuchung offenbart die Ähnlichkeit dieser Lehre zu jener esoterisch-westlicher Religion. Anhaftung an das flüchtige, illusorische Ego-Selbst und alle Dinge, die es bestätigen, erhält eine Trennung vom Rest des Universums aufrecht, vom welchem wir in Wahrheit nicht abgetrennt sind. Anhaftung ist Abtrennung. Zur Trennung von Gott stellt sich die Frage, was ist Gott anderes als dasjenige, welches unser abgetrenntes Selbst transzendiert und alles Sein durchdringt? Beim Ursprung des Leids stimmen östliche und (esoterische) westliche Religionen grundsätzlich überein20.

Im täglichen Leben der Menschen ergeben sich Glück und Sicherheit aus starken Verbindungen – zur Familie, der Gemeinschaft, der Natur, dem Ort, dem Geist und dem Selbst – und nicht aus „Unabhängigkeit“, sei sie psychologisch oder finanziell. Da die Geschichte der Technologie eine lange Saga wachsender Trennung von der Natur, von der Gemeinschaft (durch Spezialisierung und Massengesellschaft), vom Ort (durch unseren hoch mobilen Lebensstil, der sich zudem hauptsächlich in Innenräumen abspielt) und vom Geist (durch das dominante wissenschaftliche Paradigma der Newtonschen Weltmaschine) ist, darf man sich nicht wundern, dass der Schmerz der Menschen während der modernen Ära nur gewachsen ist. Selbst da direkte physische Entbehrungen zurückgegangen sind, hat psychologisches Leid in Form von Einsamkeit, Verzweiflung, Depression, Angst und Wut epidemische Ausmaße angenommen. Selbst wenn unsere Technologie erfolgreich äußere Konsequenzen der Trennung abwehren kann, verinnerlichen wir sie dennoch als eine Wunde, eine Trennung von unserer eigenen Seele.

Zuletzt sei hier als ein weiteres Anzeichen für das Wesen der Wunde das Phänomen der Gier genannt. Wenn ich meine Studenten nach der Ursache für die globalen Probleme, wie Umweltverschmutzung, frage, nennen sie unweigerlich die Gier, welche sie als grundlegenden Charakterzug des menschlichen Wesens ansehen, und welche zwar kontrolliert, nie aber beseitigt werden kann. Doch Gier ist ebenso wie Langeweile in den meisten Jäger-Sammler Kulturen, die auf einer offeneren Auffassung vom Selbst beruhen, nicht zu finden. Der Erwerbstrieb ist lediglich ein Versuch, die Leere zu füllen und den Schmerz der Trennung zu lindern, als könnte die Anhäufung von mehr und mehr Selbst in Form von Besitz die grundlegende Leugnung des Selbst und damit die Trennung kompensieren. Es spricht für sich, dass wir oft erwerbsorientierte Metaphern dafür verwenden, wie wir uns von der existentiellen Unruhe, die wir Langeweile nennen, zerstreuen: einen schönen Tag haben, etwas zu tun haben, einen Drink nehmen. Durch „Haben“ streben wir ebenso nach Sicherheit, sowohl materiell – Besitz haben – als auch zwischenmenschlich, bis hin zum „Sex haben“. Aber natürlich, soviel sich auch beim einzelnen, abgetrennten Selbst anhäuft, ist dieses Selbst doch immer noch grundsätzlich allein im Universum.

18 Sardar, Ziaduddin Cyberspace as the Darker Side of the West”. The Cybercultures Reader. Routledge, 2000, S. 742.

19 Hodgkinson, Tom. Ä Philosophy of Boredom”, New Statesman, 14. März 2005. Svendsen, Lars Fredrick. Kleine Philosophie der Langeweile. Insel Verlag, Frankfurt. März 2002.

20 Die Erklärungen für das Leiden ähneln sich im Hinduismus und Buddhismus. Im Taoismus könnte man sagen, das Leiden sei ein Resultat des Unwissens über Tao; das heißt, ein Widerstand gegen den natürlichen Fluss des Lebens. Auch dies ist eine Form der Trennung.

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1998-2011 Charles Eisenstein