Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein

Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters

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Inhaltsverzeichnis:


Leben ohne einen Replikator

Ein Schöpfungsmythos kann ein mächtiges Fenster in die wichtigsten Glaubenssysteme einer Kultur sein. In Kapitel III habe ich den biologischen Schöpfungsmythos beschrieben, die landläufig anerkannte Geschichte über den Ursprung des Lebens in einem sich replizierenden Ur-Molekül, das schließlich mutierte und sich zu der Vielfalt von Formen entwickelte, die wir heute sehen. Bei aller Spekulation über mögliche RNS- oder Peptid-Kandidaten für das „erste sich replizierende Molekül“ geht die Tatsache unter, dass es heute kein solches Molekül gibt. Es gibt kein Gen, keine DNS- oder RNS-Sequenz, die sich selbst replizieren kann – nicht ohne eine Menge Unterstützung von anderen Genen. In der Tat: Genetische Reproduktion benötigt viele, viele Gene, die zu ihrer gegenseitigen Replikation kooperieren. Jedes Gen spielt eine sehr begrenzte – wenn auch manchmal unverzichtbare – Rolle in dieser kollektiven Replikation. Vielleicht liefert es Anweisungen für die Produktion eines Proteins, das in der Herstellung von Sexualhormonen notwendig ist; vielleicht aktiviert es ein anderes Gen, das die Zelldifferenzierung in einem entscheidenden Punkt der Entwicklung auslöst. Diese und andere Funktionen sind sicher für die Genreplikation nötig, wenn auch nicht ausreichend. Sogar im einfachsten Organismus, sogar in einem Virus, kann sich kein Gen autonom selbst replizieren.

Bei der Karyokinese tragen eine Vielfalt von Enzymen und Signalproteinen, jedes für ein anderes Gen kodiert und allein nuzlos, unabdingbar zum gesamten Prozess bei. Helikase, Polymerase, Cyclin und CDKs werden jeweils von einem anderen Gen hergestellt, und sollte nur eines fehlen, versagt die Mitose vollständig. Gene replizieren sich nicht selbst. Auf ihrer grundlegendsten Ebene ist Vermehrung (und Überleben) eine gemeinsame Anstrengung.

Warum ist dann die biogenetische Theorie so überwältigend darauf fixiert, die Herkunft des „ersten Replikators“ zu erklären? Warum suchen wir nach diesem mythischen Molekül, das fähig war, sich selbst zu replizieren, wenn das Leben so nicht funktioniert? In Kapitel III habe ich die kulturellen Scheuklappen beschrieben, welche die vom Egoismus-Gen geprägte Vorstellung vom Leben motivieren und verstärken. Eine Welt klar abgegrenzter, sich miteinander im Wettstreit befindlicher Selbste, in der Zusammenarbeit nur zufällig auftaucht und kein notwendiger oder grundlegender Bestandteil des Lebens ist, passt zur Philosophie der wissenschaftlichen Revolution und unserer selbstauferlegten Trennung von der Natur und von einander. Wir finden sie auch in unseren Geld-, Bildungs-, Gesundheits-, Rechts- und Glaubenssystemen. Weil wir unsere eigene Kultur auf das Leben projizieren, sehen wir rote Zähne und Klauen, die von Beginn an vom rücksichtslosen, selbstsüchtigen Kampf ums Überleben getrieben wurden. Und das Subjekt dieser „Selbst“-Sucht ist das Gen, der Replikator.

Weil das eine elegante und schlanke Theorie ist und weil sie so schön mit dem Selbst- und Weltbild unserer Kultur zusammenpasst, hat die neo-darwinistische Synthese als vorherrschendes Paradigma für lange Zeit trotz einiger beachtlicher, nie gelöster Probleme überdauert; das wichtigste Problem ist die Überlebensfähigkeit der Zwischenglieder und das damit eng verbundene Problem nichtreduzierbarer Komplexität. Auf jeder Ebene der Organisation trifft die Evolutionstheorie auf enorme Komplexitätssprünge, die schwer mit ungerichteter Zufallsmutation vereinbar sind. Und die Lösung zeigt nicht nur auf ein anderes, durch Beziehungen definiertes Selbst-Konzept, sondern auch ein anderes Verständnis der relativen Wichtigkeit von Zusammenarbeit und Wettbewerb, eine andere Auffassung über die Natur des Lebens, das nicht gemein, brutal und kurz ist, eine andere Einstellung zum Programm der Kontrolle und ein weitgehend anderes Verständnis von Fortschritt, menschlicher Gesellschaft und menschlichen Beziehungen.

Der erste solche Komplexitätssprung, mit dem die Evolutionstheorie zu kämpfen hat, ist natürlich die Herkunft des Lebens. Die ursprüngliche Version des Problems war die Geschichte Huhn und Ei, bei der die DNS Proteine benötigt, die ihre Replikation katalysieren, während Proteine nur durch DNS hergestellt werden können. Was war zuerst da? Eine mögliche Lösung tauchte 1982 mit der Entdeckung der „Ribozyme“ auf: RNS-Moleküle, die sowohl katalytische als auch informationsspeichernde Funktionen besitzen, das heißt, die Möglichkeit einer „RNS-Welt“, die keine Proteine braucht. Das verschiebt das Huhn-und-Ei-Problem jedoch lediglich in einen anderen Bereich, wie der nächste Absatz zeigt (du kannst ihn überspringen, wenn du magst). Trotz dieser enormen Schwierigkeiten dauert die Forschung an der „RNS-Welt“ an, einer „mittelgroßen Industrie“ in sich, wie sich ein Kommentator ausdrückt.34 Diese Anstrengung wird von der Überzeugung motiviert, dass es irgendeinen „ersten Replikator“ gegeben haben muss, denn unsere gesamte Vorstellung darüber, was das Leben ist, was das Selbst ist und wie das Universum funktioniert, hängt davon ab, das ursprüngliche eigenständige und getrennte Selbst also. RNS-Welt-Theorien beschreiben hochgradig künstliche ad hoc Bedingungen, die auf der Annahme beruhen, dass „so etwas passiert sein musste.“

Zunächst ist da das Problem, wie man eine präbiotische Ursuppe voller β-D-Ribonukleotide bekommt, über die zwei führende Forscher, Joyce & Orgel, schreiben: „Wir folgern, dass die direkte Synthese von Nukleosiden oder Nukleotiden aus präbiotischen Vorgängern in vernünftigem Ausmaß und ohne größere Mengen verwandter Moleküle nicht durch die derzeit bekannten chemischen Reaktionen erreicht werden konnten.“35 Noch schlimmer: Selbst wenn diese Synthese gelungen wäre, gibt es keinen vernünftigen Mechanismus zur Trennung der linkshändigen L-Isomere von den rechtshändigen D-Isomeren, was nötig ist, weil die Gegenwart der L-Version (die es in der Biologie nicht gibt) die Polymerisation der D-Version hemmt.36 Ein weiteres Problem ist die Synthese von Polynukleotiden mit den korrekten 3’,5’-Bindungen, die ohne einen speziellen Katalysator in der Minderheit wären.37 Selbst wenn es einen Polymerisationsmechanismus vor der Replikation gegeben hätte, ist da drittens die Schwierigkeit, die enormen Suchräume möglicher Polynukleotide zu überbrücken, um eines zu finden, das die Selbstreplikation mitmacht – und das ohne den evolutionären Suchmechanismus fehlerbehafteter Replikation – ein weiteres Huhn-Ei-Problem.38 Um dir eine Vorstellung dieses Problems zu geben: Eine RNS-Polymerase, die nur eine der Funktionen ausführt, welche die RNS-Replikation bräuchte, ist im Labor hergestellt worden; doch es kann nur die Polymerisation drei-Nukleotid-langer Stränge ausführen und es selbst enthält hundert Nukleotide, was einen Suchraum in der Größenordnung von 4100 bedeutet.39

Mit anderen Worten ist das Auftreten selbst der einfachsten vorstellbaren Replikatormoleküle nur in einem hochkomplexen chemischen System plausibel – einem System, das Moleküle beinhaltet, die nur von lebenden Systemen erzeugt werden können. Es sieht so aus, als wäre das Leben die Vorbedingung für Leben. Seit der Widerlegung „spontaner Bildung“ im 19. Jahrhundert korrespondierte diese Maxime mit unseren Beobachtungen. Andererseits hat das Leben auf allen Evolutionsstufen plötzliche Komplexitätssprünge vollzogen, von denen jeder das Huhn-Ei-Erklärungsdilemma aufwarf. Die Frage nach dem Ursprung des Lebens ist ein Spezialfall einer umfassenderen Frage: Wo liegt der Ursprung von Komplexität, Ordnung und Organisation?

Eine Theorie, die den Ursprung des Lebens ohne einen „ersten Replikator“ zu erklären versucht, ist als Komplexitätstheorie bekannt. Diese von Kauffman in seinem Buch „Origins of Order“40 erläuterte Theorie ist ein wichtiger Schritt auf ein biologisches Paradigma zu, das nicht mehr auf der gegenwärtigen Vorstellung unserer Kultur vom Selbst basiert. Bei der Beschreibung der Herkunft des Lebens macht sich Kauffman das Konzept der „freien Ordnung“ zunutze, das weiter oben im Abschnitt „Ordnung ohne Design“ beschrieben wurde. Sich entwickelnde komplexe Strukturen tauchen bei gewissen Grundzuständen wie etwa Rückkopplung in vielen mathematischen, physikalischen und chemischen Systemen auf. Ist das Leben eine davon?

Der Schlüssel zu Kauffmans Darstellung der Biogenese ist die Idee einer autokatalytischen Menge. Viele der Probleme bei der Standardtheorie vom Egoismus-Gen rühren von der absurden Unwahrscheinlichkeit her, dieses Molekül durch jene Bausteine zu bekommen, die man wahrscheinlich in der Ursuppe gefunden hätte. In Kauffmans Theorie ist kein Auftauchen eines Moleküls nötig, das sich aus seiner eigenen Bildung katalysieren kann. Alles was man braucht ist einen Satz Moleküle, von denen jedes einen Schritt bei der Bildung von einem oder mehreren anderen Molekülen katalysiert. Der letzte Schritt bei der Bildung jedes Moleküls im Satz muss durch ein anderes Mitglied des Satzes katalysiert werden, ein Umstand, den man katalytischen Schluss nennt. Sich auf kombinatorische Logik berufend argumentiert Kauffman, dass das Auftreten autokatalytischer Mengen hoch wahrscheinlich, wenn nicht sogar unvermeidlich sei, wenn die molekulare Vielfalt eine gewisse Komplexitätsgrenze überschreitet.

Schauen wir uns ein vereinfachtes Beispiel an: einen autokatalytischen Kreis, in dem A die Bildung von B katalysiert; B katalysiert C, C katalysiert D, D katalysiert E und E katalysiert A. Man kann es so sehen, dass A der Replikator ist und B, C, D und E als Werkzeuge benutzt, um Replikation zu erreichen. Das ist jedoch eine zufällige Zuschreibung, denn wir könnten dasselbe über jedes andere Mitglied der Menge sagen. Jedes hängt von den anderen ab.

Im Herzen von Kauffmans autokatalytischen Mengen liegt ein autokatalytischer Kreis, doch es wird noch weit komplizierter. Stell dir ein System mehrfacher Kreise und Ketten vor, Kreise innerhalb von Kreisen, gegenseitige Verbindungen von Quervorschüben, hemmende Verbindungen, bevorzugte Reaktionen je nach verschiedenen Substratkonzentrationen... sehr bald sieht das Bild nach einem Metabolismus oder einem Ökosystem aus. Es gibt noch immer keine eindeutig indentifizierbare Einheit, die man den Replikator nennen könnte, aber wir können irgendwelche willkürlichen Grenzen zwischen verschiedenen Subsystemen innerhalb des Systems ziehen und diese Teile lebendig nennen, und erkennen, dass während sie zur Herstellung ihrer Reagenten von anderen Subsystemen abhängen, die fähig sind, eine beständige innere Umgebung aufrecht zu erhalten.


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Abbildung 6.4: Links: Ein autokatalytischer Kreis. Rechts: Eine sehr einfache autokatalytische Menge. Jeder Punkt stellt eine Bindungs-/Trennungs-Reaktion dar, die drei Elemente einbezieht. Die gestrichelten Linien stellen die katalytischen Aktionen eines vierten Elements dar (Quelle: www.nd.edu/~networks/gallery.htm)


Die Ähnlichkeit autokatalytischer Mengen mit Metabolismen und Ökosystemen ist bestimmt kein Zufall. Wenn Ökologen mit Pfeilen und Knotenpunkten ein Schema der gegenseitigen Abhängigkeit unter den Spezies zeichnen, sieht das aus wie eine riesige, detaillierte Ausführung der oben abgebildeten autokatalytischen Menge. Wie Kauffman außerdem hervorhebt, ist die moderne Zelle eine autokatalytische Menge, in der DNS, RNS, Proteine und verschiedene Zwischenprodukte alle gegenseitig zu ihrer Synthese beitragen. Genau wie in unserem obigen autokatalytischen Kreis ist es eine willkürliche Behauptung, die DNS sei der Replikator und die RNS, Proteine usw. seien lediglich ihre Werkzeuge. Warum sagt man, statt dass die Gene kollektiv handeln, um sich selbst zu replizieren, indem sie Proteine kodieren, nicht, dass die Proteine kollektiv handeln, um sich selbst zu replizieren, indem sie die chemischen Schritte der DNS-Transkription und RNS-Übersetzung katalysieren?


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Abbildung 6.5: Karte einer Protein-Protein-Interaktion. Das linke Diagramm stammt von Hawoong Jeong, das rechte von Erzsebet Ravasz.


Stuart Kauffman schlägt ein Selbst vor, das von Beginn an kooperativ ist, doch sein Modell beinhaltet noch immer eine unterschwellige Projektion der Trennung. Ist eine Zelle wirklich autokatalytisch? Was ist mit Menschen? Nein. Bestenfalls können wir sagen, dass beide autokatalytische Systeme und Systeme-in-Systemen enthalten. Beide brauchen eine „Nahrungs-Menge“ an Molekülen, die sie nicht selbst herstellen können. Ein Mensch kann weder Zucker aus Sonnenlicht herstellen noch den freien molekularen Sauerstoff, den unser Stoffwechsel braucht, noch eine Anzahl essenzieller Aminosäuren, Fettsäuren und Vitamine. Diese Substanzen und ihre Quellen sind daher vom Selbst ausgeschlossen.

Wenn wir einen Teil einer autokatalytischen Menge abgrenzen, um einen Organismus zu definieren, stellen wir eine gewisse Willkürlichkeit in dieser Definition fest. Wir hätten das Ganze genausogut als eine Einheit oder einen kleineren Teil des Lebens bezeichnen können, genauso wie wir beim Menschen sagen könnten, dass unsere Organe leben, unsere Zellen leben, unsere Mitochondrien leben. Sicher, sie sind allein nicht lebensfähig, aber Menschen ebenfalls nicht. Oder irgendeine Lebensform auf irgendeiner Ebene.

Die biologische Definition des Organismus und damit des Selbst bezieht sich normalerweise auf das Konzept des Phänotyps: der „Expression“ von Kern-DNS. (Schon diese Definition ist problematisch, weil DNS sehr unterschiedlich unter verschiedenen Umweltbedingungen exprimiert wird.) Trotzdem ist der resultierende Organismus oft nicht überlebensfähiger – das heißt nicht fähiger zu Überleben und Fortpflanzung – als ein isoliertes menschliches Organ oder eine Zelle. Die meisten Lebensformen sind so vollständig von symbiotischen Beziehungen mit anderen Lebensformen abhängig, dass man die phänotypische Definition in Frage stellen muss. Ohne Bakterien in ihren Pansen beispielsweise wären Kühe unfähig, Zellulose zu verdauen und würden schnell verhungern. Ist das Bakterium Teil der Kuh oder ein getrennter Organismus? Oder ist unsere Identifikation getrennter Organismen als atomische Elemente des Ökosystems eine Quelle der Verwirrung?

Es kann sehr gut sein, dass im Gegensatz zur Theorie vom Egoismus-Gen, in welcher der Organismus zuerst da war, mutierte, evolvierte und ein Ökosystem erschuf, tatsächlich das Ökosystem zuerst da war, während Organismen lediglich halb-autonome Verästelungen sind, die auftauchten, nachdem das Ökosystem sich auf eine gewisse Komplexitätsebene entwickelt hatte. Wenn das so wäre, dann ist die Suche nach dem ersten „Replikator“ ein Umweg, ein Artefakt eines kulturellen Vorurteils über die Natur des Selbst als eigenständige, unabhängig existierende Einheit. Wenn die Grenzen unseres Selbst fließender wären, wie sie es in anderen Kulturen waren, offener, weniger streng in ihrer Einteilung des Universums in Selbst und Anderes, dann wären wir vielleicht nicht so sehr auf das Aufspüren eines Replikators fixiert und eher fähig, eine andere Genesis-Geschichte zu verstehen.

Kauffmans Arbeit unterbreitet eine Geschichte, in der Leben viel mehr auf Zusammenarbeit als auf Wettbewerb beruht. Im einfachen Beispiel des autokatalytischen Kreises ist jedes Element unverzichtbar für die Lebensfähigkeit des Ganzen. Entferne eines und das ganze System zerfällt. Ein komplexeres System wie ein echtes Ökosystem ist robuster – entferne C und es werden andere Pfade vonn B nach D führen, und falls nicht, von B nach E – aber der Verlust eines Elements oder einer Spezies wird normalerweise trotzdem eine Kaskade anderer Verluste auslösen, was das System auf eine vereinfachte, wenn auch funktionierende, Teilmenge des Originals kollabieren lässt. Das System ist auch auf andere Weise kooperativ: Das Ganze ist größer als die Summe seiner Teile. Spalte eine autokatalytische Menge in zwei Teile, und beide könnten nicht-autokatalytisch und damit unfähig zur Selbsterhaltung ohne chemisches Gleichgewicht sein. Autokatalyse, und damit Leben, ist eine emergente Eigenschaft, die aus Komplexität entsteht. Leben auf allen Ebenen ist ein Kollektiv.

Dies ist ein Beispiel – im wörtlichen Sinn ein lebendes Beispiel – der Grenzen reduktionistischer Logik. Wie in jedem System mit emergenter Ordnung gibt es am Ganzen etwas, das sich der Analyse entzieht und nicht verstanden werden kann, indem man es auseinandernimmt. Dichter wissen seit langem, dass einer Blume etwas verloren geht, wenn sie auf lediglich so-und-so-viele botanische Eigenschaften der Staubgefäße, Kelchblätter, Filamente und Blütenblätter reduziert wird, so wie das Leben mehr ist als die Ansammlung von Enzymen, Fettsäuren, DNS, Proteinen usw., aus der es besteht. Es ist schon lange wissenschaftliche Ideologie, dass höhergeordnete Eigenschaften wie Schönheit, Bedeutung und Liebe entweder menschliche Projektionen ohne Realitätsgehalt sind oder einfach Sammelbegriffe für eine Anzahl niedriger angesetzter „wirklicher“ Phänomene. Wirklich, was ist Glück? Nur eine Menge biochemisch determinierter Zustände: Hormonspiegel, Neurotransmitterspiegel, Aktivitäten von Gehirnregionen usw. Heute können wir jedoch mathematisch beweisen, dass es nicht-reduzierbare höhergeordnete Eigenschaften gibt, und wir können sie auch in lebenden Systemen betrachten.

Wenn ich jedoch sage, mein lieber Leser, dass „das Leben mehr ist als die Ansammlung von Enzymen, Fettsäuren,...“, denke bitte nicht, ich würde vorschlagen, noch eine weitere Zutat hinzuzufügen, einen immateriellen Geist, der den Körper bewohne und belebe. Die Wahrheit ist weit phantastischer. Ich glaube nicht an einen immateriellen Geist, aber ich glaube an einen materiellen Geist! Geist ist nicht von der Materie getrennt, er ist eine emergente Eigenschaft der Materie. Einerseits, ja, ist da nichts anderes als die Massen und Kräfte der Physik und Chemie41, aber das heißt nicht, dass emergente, höhergeordnete Phänomene unwirklich sind. Geist ist genau so real wie Langtons Ameisenstraßen. Er erzeugt reale Effekte und besitzt wirkliche Erklärungskraft, aber wenn wir die Dinge auseinandernehmen, um nach ihm zu suchen, ist er nicht da. Die Seele ist nicht nur eine weitere Zutat eines Lebewesens, weswegen Experimente, die vorgeben, die Existenz der Seele zu beweisen, indem der Körper vor und nach dem Tod gewogen wird, fehlgeleitet sind.42 Das bedeutet jedoch nicht, dass sie nicht real ist! Das selbe gilt für andere emergente Phänomene wie Glück, Bewusstsein, Schönheit und Persönlichkeit, so dass diese für immer außerhalb traditioneller Ingenieurs- und Kontroll-Paradigmen stehen. Wie bei jedem komplexen, nicht-linearen, rückkopplungsgesteuerten System kann das Nachäffen der Teile unerwartete oder sogar gegenteilige Effekte auf das Ganze haben, weshalb auch Versuche, die Ökosysteme zu „managen“ so problematisch sind.

Eine Technologie der Ganzheit statt einer der Teile wird völlig anders aussehen, als wie wir es heute kennen, und der wissenschaftlichen Erkenntnis der letzten paar Jahrhunderte entgegenlaufen. Mit einem Kraut konfrontiert, das eine heilende Wirkung besitzt, musste die Wissenschaft es auf der Suche nach dem „aktiven Inhaltsstoff“ chemisch zerlegen. Glück durfte nicht als ganzheitlicher Zustand der gesamten Person erklärt werden, sondern musste isoliert werden als begrenzte Menge von Neurotransmitterspiegeln, Hormonspiegeln und ähnlicher Reaktionen. Bewusstsein musste gleichermaßen als ein bestimmter Zustand des Gehirns, des „Sitzes des Bewusstseins“, definiert werden. Bodenfruchtbarkeit musste ebenfalls reduktionistisch erklärt werden, in Prozenten einer endlichen Liste von Mineralien und anderer Zutaten. Wissenschaft war auf Destillation, Purifikation und Extraktion aktiver Prinzipien und Abtrennung von Schlacke basiert.

Eng mit diesem Ziel verbunden war das Programm der Kontrolle. Denn wenn wir einmal die aktive Zutat in Reinform gefunden hatten, konnten wir sie zur Manipulation der Wirklichkeit nach unseren Wünschen handhaben. Wir konnten den Boden fruchtbar machen, wir konnten den Patienten glücklich machen, wir konnten ein Medikament in Reinform herstellen, das noch präziser als das ursprüngliche Kraut, aus dem es stammte, Wirkung erzielte. Die Technologie der Zukunft wird aus unserem Verständnis all der Dinge entstehen, die verschwinden, wenn man sie auseinandernimmt und dennoch real sind. Es wird eine Technologie der Emergenz sein.

Als René Descartes über die Natur des Selbst nachdachte, verwendete er genau denselben Ansatz zur Isolierung der Grundprinzipien. Tatsächlich ist es unsere Vorstellung vom Selbst, wie es Descartes so deutlich formuliert hat, die auch die Schablone für unsere Erkundung der Welt liefert. Indem er die Schlacke abgetrennt hat, erreichte Descartes etwas, von dem er glaubte, dass es der grundlegende, reine Kern der Persönlichkeit sei, ein Seinsquantum getrennt vom Körper, den Gefühlen, den Sinneseindrücken und Gedanken, doch von oben betrachtet; sie wahrnehmend, doch getrennt von ihnen. Descartes’ Selbst ist das Publikum für etwas, das Daniel Dennett „Cartesisches Theater“ nennt: dem Spiel der Gedanken, Wahrnehmungen, Sinnesinformationen und Gefühlen auf der Gehirnbühne zuzusehen.

Doch wenn wir das Selbst wie beim Ur-Replikator, wie beim wesentlichen Lebensprinzip, auseinandernehmen, um seine Essenz zu finden, entdecken wir, dass auch diese nicht vorhanden ist. Das ist sicherlich in den Neurowissenschaften der Fall gewesen, die herausgefunden haben, dass Eigenschaften wie Bewusstsein und Erinnerung nicht irgendwo im Gehirn lokalisiert sind. Der Buddhismus ist zu der ähnlichen Erkenntnis gelangt, dass das Selbst keine objektive, eigenständige Wirklichkeit besitzt, sondern aus Beziehungen entsteht, die den gesamten Kosmos umspannen; es gibt keine getrennten Individuen, alle sind miteinander verbunden, von einander abhängig, definieren sich gegenseitig.

Die Vorstellung vom Leben, dem Organismus und daher dem Selbst als willkürlich gebundenes offenes Subsystem, das seinerseits aus einer Vielzahl gegenseitig abhängiger Subsysteme zusammengesetzt und daher ohne getrennte objektive Wirklichkeit ist, kollidiert mit den Grundannahmen moderner Philosophie, Medizin, Wirtschaft, Religion, Rechtswissenschaft und Psychologie. Die neue Selbst-Auffassung wird Veränderungen großer Tragweite in all diesen Bereichen gebären. Das cartesische Selbst ist die Grundlage für den Dualismus, der das moderne Denken so sehr durchdringt: Ich denke, also bin ich. Descartes glaubte an einen nicht-reduzierbaren Kern der Persönlichkeit bzw. des Seins, der das wahre „Ich“ sei, eigenständig und getrennt. Dieses Selbst-Konzept passt völlig mit den Erkenntnissen des Zeitalters der Trennung zusammen. Nun entdecken wir, dass an der eigentlichen Basis des Lebens kein solches Selbst existiert und wir werden diesem Faktum wieder und wieder begegnen, Ebene um Ebene, in der Zelle, dem Organismus, dem Ökosystem und dem gesamten Planeten. Unsere fortgeschrittene Entfremdung von der Gemeinschaft des Lebens, unsere fortgeschrittene Distanzierung von der Natur basiert letztlich auf einer Illusion. Die wissenschaftliche Revolution hat dieser Illusion Ausdruck verliehen; heute untergräbt die Wissenschaft dagegen ihre Fundamente.

Nächste: Die Gemeinschaft des Lebens

34 Ich habe für diesen Abschnitt vor einigen Jahren Recherchen durchgeführt. Nun scheint es, dass die RNS-Welt schnell an Gunst verliert.

35 Gerald F. Joyce, und Leslie E. Orgel, Prospects for Understanding the Origin of the RNA World,ïn: The RNA World, 2.Aufl., Cold Spring Harbor Laboratory Press, 1999. S. 68

36 Joyce, G.F., Visser G.M., van Boeckel C.A.A., van Boom J.H., Orgel L.E., and van Westrenen J. Chiral selection in poly(C)-directed synthesis of oligo(G)”. Nature , Bd. 310, 1984, S. 602-604.

37 Joyce und Orgel, S. 51

38 Joyce und Orgel, S. 62

39 Bartel, David P. Recreating an RNA Replicase.”The RNA World, S. 143-159

40 Kauffmans jüngeres Buch Der Öltropfen im Wasser (Piper 1996) wird dem Laien besseren Zugang verschaffen. Es wendet dieselben Konzepte weit jenseits von Biogenese und Evolution an und ist eine exzellente Grundlage zur Entwicklung nicht-dualistischer Erkenntnis über den Ursprung von Ordnung und Schönheit im Universum.

41 Behalte auch im Hinterkopf, dass es sogar in der Welt der Massen und Kräfte vieles gibt, was wir nicht wissen.

42 Seele als emergente Eigenschaft könnte mit einer gebundenen Energie verknüpft sein, die zur Masse eines Lebewesens beiträgt. Der Tod bringt eine Dekohärenz unzähliger Lebensprozesse, einen enormen Verlust verkörperter Informationen und Energien und daher ein Äquivalent zum Masseverlust. Ich verstehe, dass die normale Physik keine Möglichkeit zulässt, wie eine Masse von mehreren Unzen einfach verschwinden kann, ohne in Energie der Größenordnung von 9 × 1016 Joule umgewandelt zu werden. Wohin geht sie? Ich werde diese Frage nicht zu beantworten versuchen.

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1998-2011 Charles Eisenstein