Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein

Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters

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Inhaltsverzeichnis:


Die Gemeinschaft des Lebens

Während die Komplexitätstheorie als Erklärung der Herkunft des Lebens einige ernste Fehler aufweist, decken sich viele ihrer Befunde hervorragend mit einem neu entstehenden Lebens- und Evolutions-Verständnis. Jüngere Entdeckungen der Ökologie und Genetik bestätigen zwei der Grundannahmen der Komplexitätstheorie: (1) dass das Leben auf Zusammenarbeit basiert und (2) dass es kein reines biologisches Selbst gibt.

Diese neuen Entdeckungen bringen eine andere Art von Verständnis mit sich, die den Darwinismus genau an seinen Fundamenten untergräbt, indem sie die Vorrangstellung der natürlichen Auslese und der zufälligen Mutation als Mittel der Evolution in Frage stellt. Obwohl es Wettbewerb zwischen den Gliedern eines Ökosystems oder einer autokatalytischen Menge sicherlich geben kann, ist jedes für sein Überleben gleichermaßen auf die anderen angewiesen. Jedes besitzt seine Nische, seine essentielle Rolle und Funktion, welche die anderen nur unter Gefahr für sich selbst zerstören könnten. Es gibt keine getrennte Replikationseinheit und daher nichts, auf dessen Grundlage Darwinismus funktionieren könnte, bis sehr viel später die halb-autonomen Verzweigungen der Menge genug Unabhängigkeit gewonnen haben, um als eigenständige Individuen in Wettstreit zu treten. Ich möchte jedoch den Modifikator „halb-“ betonen, denn keine Lebensform ist je völlig unabhängig vom Rest der Natur.

Wenn wir gegenwärtige Lebenssysteme betrachten, finden wir eine ähnliche Situation wie bei der autokatalytischen Menge vor. Natürlich gibt es Wettbewerb, aber dessen Vorrang als bestimmender Faktor von Verhalten und Entwicklung wird überbetont. Wir neigen dazu, das zu finden, wonach wir suchen und nun, da die kulturellen Scheuklappen der Trennung wegzufallen beginnen, entdecken Wissenschaftler immer häufiger die vorrangige Bedeutung der Zusammenarbeit in der Biologie. Das Ausmaß dieser kooperativen Beziehungen stellt die ganze Stimmigkeit des Konzepts individueller Organismen in Frage und droht wie die Kauffman-Mengen den Neo-Darwinismus speziell der Lehre von der natürlichen Auslese zu berauben.

Schauen wir uns einige Beispiele für Zusammenarbeit in der Natur an und beginnen wir mit unseren eigenen Zellen. Jede unserer Zellen wird von Mitochondrien bewohnt, die ihre eigene DNS haben. Diese Protoplasma-Schnipsel sind ein Teil von uns (und allen anderen Tieren), der nicht von unserer Kern-DNS kodiert worden ist. In gewissem Sinn sind sie getrennte Organismen – in der Tat akzeptieren die meisten Wissenschaftler nun Lynn Margulis’ Theorie, dass Mitochondrien ursprünglich aerobe Bakterien waren, die mit anderen Zellen verschmolzen sind. Doch ohne sie wären wir tot, denn sie liefern 90% unserer Energie. Sogar auf zellulärer Ebene sind wir kooperative Wesen.

An der Bretonischen Küste gibt es einen Plattwurm, Convoluta roscoffensis, der keinen funktionstüchtigen Mund oder Verdauungstrakt besitzt. Stattdessen beherbergt sein transparenter Körper Billionen grüner Algen, die den Wurm mit photosynthetischer Energie versorgen. In diesem geschützten Umfeld leben und sterben Generationen von Algen. Sie verarbeiten sogar die Stoffwechselabfälle des Wurms! Ein anderer Wurm, ein Fadenwurm, der nahe untermeerischer Rauchabzüge wohnt, hat ebenfalls keinen Verdauungstrakt, beherbergt jedoch Bakterien in einem speziellen Organ namens Trophosom. Die Bakterien produzieren Energie aus Schwefelwasserstoffgas, das der Wurm sammelt. Welche Sorte Bakterien? Niemand hat sie benannt, denn man kann sie unmöglich im Labor kultivieren. Sie können nur im Wurm überleben. Bakterien und Würmer sind jeweils völlig von einander abhängig.

Ich habe bereits die Abhängigkeit der Wiederkäuer von Bakterien bezüglich Zellulose-Verdauung erwähnt. Neuerdings werden Beweise gesammelt, dass Menschen zum Gedeihen ebenfalls eine komplexen Darmökologie benötigen. Hunderte von Spezies von Hefepilzen, Bakterien und anderen Organismen bewohnen den gesunden menschlichen Darm, in Mengen, welche die Zahl unserer eigenen Zellen weit übertreffen. Sie produzieren Vitamin K und B, schützen uns vor Kolonien pathogener Bakterien und Pilze, helfen bei der Verdauung und interagieren mit dem Immunsystem auf eine Weise, die bisher noch nicht völlig verstanden ist. Es gibt sogar Beweise, dass Menschen dafür geschaffen sind, eine besondere Spezies „parasitischer“ Darmwürmer zu beherbergen, die man benutzte, um erfolgreich hunderte von Fällen von Colitis ulcerosa und Morbus Crohn zu behandeln.43 Nicht nur unsere Gedärme, auch alle Schleimhäute, die Haut und sogar Wimpern tragen Bakterien, Hefepilze und mikroskopische Insekten, die nicht als Wettbewerber unsere Ressourcen in Anspruch nehmen, sondern Partner in Sachen Gesundheit sind. Mit welchem Recht schließen wir sie von der Definition des Selbst aus, da wir doch teils oder sogar ganz von ihnen abhängen, nicht weniger als von unserem Herz oder unserer Leber?

Stephen Buhner beschreibt in seinem schönen Buch „The Lost Language of Plants“ viele erstaunliche Beispiele für Zusammenarbeit in der Natur.

„In Zentralamerika und Afrika sind bestimmte Akazien-Spezies, große Büsche oder kleine Bäume, mit Dornen bedeckt, von denen manche hohl sind und Ameisen beherbergen. Ähnlich wie koevolutionäre Bakterien erkennen Pseudomyrmex-Ameisen neue Büsche als koevolutionäre Partner und kolonisieren diese. Die Bäume produzieren entlang des Stamms einen speziellen Nektar, den die Ameisen fressen. Wie die Substanzen, die von Pflanzenwurzeln freigesetzt werden, enthält dieser Nektar einen reichen Mix an Fetten (Lipiden), Proteinen, Zuckern und anderen Anteilen, welche die Ameisen brauchen, um gesund zu bleiben. Die Ameisen entfernen Vegetation auf dem Boden rund um die Pflanze, entfernen Blätter anderer Pflanzen, die Schatten auf den Baum werfen, töten jede Schlingpflanze, die sich den Baum hinaufwinden will und greifen sich nähernde Pflanzenfresser an.“44

Welches ist der Organismus: der Baum selbst oder der Baum zusammen mit den Ameisen? Die meisten Pflanzen könnten ohne die Mykorrhiza-Pilze auf ihren Feinwurzeln nicht überleben, und diese hängen ihrerseits von den Zuckern ab, welche die Pflanze liefert. Eine ähnliche Beziehung besteht zwischen Bohnen und Stickstoff bindenden Bakterien, nur dass nicht bloß die hier involvierten Organismen von der Stickstoffbindung abhängen, sondern die gesamte Pflanzengemeinschaft. Das ist normal. Zusammenarbeit in der Natur überschreitet bei weitem die gegenseitige Abhängigkeit zwischen Pflanze und Bestäuber, Plattwurm und Alge. Viel häufiger bestehen die Abhängigkeiten nicht zwischen einzelnen Gattungen, sondern sind breit gestreut: tausende von Spezies in gegenseitig abhängiger Partnerschaft. Wie ein Säugetier nicht ohne Herz oder Lungen überleben kann, was es rechtfertigt, diese Organe als Teil des „Selbst“ einzuschließen, so sind auch diese Pflanzen, Insekten, Pilze usw. unfähig ohne ihre symbiotische Gemeinschaft zu überleben. Entferne ein Element und das ganze System kann kollabieren. Das Leben gedeiht nicht in steriler Isolation.

Buhner gibt ein schlagendes Beispiel der Gemeinschaft des Lebens mit seiner Beschreibung des Eisenbaums in der Sonora-Wüste:

„Kleinere Pflanzen treten nun auf. Kontinuierlich von der Wüstensonne abgeschirmt, von Schwitzwasser gekühlt und täglich durch hydraulischen Hub bewässert können etwa 65 Pflanzengattungen unter dem Eisenbaum wachsen... 31 von ihnen wachsen sonst nirgends. Diese emergente Pflanzengemeinschaft ist mit dem Mycel-Netz verbunden und Pflanzenchemie fließt durch das ganze Netzwerk. Wo immer sich Pflanzenwurzeln berühren, können diese ihre Chemikalien direkt austauschen. Alle Pflanzen sondern flüchtige Aromastoffe ab. Einige Aromastoffe ziehen Bestäuber an, andere fallen in einem beständigen Regen auf die Pflanzengemeinschaft und die Erde darunter. Der Boden nimmt sie auf; Begleitkulturen unter dem Eisenbaum atmen sie ein. Die kleineren Pflanzen der Gemeinschaft bedecken den Boden und halten dessen Feuchtigkeitsgehalt hoch. Sie alle sondern ihre eigene einzigartige Mischung pflanzlicher Chemikalien ab, die sich mit der des Eisenbaums vermischt, um das Mikroklima und die Gemeinschaft im Boden unter dem Baum aufrecht zu erhalten.
Wenn Blätter, Rinde und Zweige altern, fallen sie zur Erde und bilden eine Lage zerfallenden Materials. Über die Jahrhunderte bauen der Baum und seine Gemeinschaft eine Abfallhalde um seinen Stamm herum und unter seinem Blätterdach auf, die im Endeffekt zu einer Insel, einem Archipel des Lebens und des Reichtums inmitten der Wüste wird – ein das Leben begünstigender Keim. Massen von Insekten, Vögeln und anderen Tieren kommen zum Archipel. Sie bestäuben, verbreiten Samen, bauen Nester aus Archipel-Pflanzen, graben Höhlen, paaren sich, belüften den Boden, verwenden Pflanzenchemie für das eigene Wachstum, als Medizin, als Nahrung, und tragen über die Jahre Tonnen ihrer eigenen Fäkalien bei. Der Eisenbaum erhöht in der Gegend, wo er wächst, die Lebensfülle um 88% und die Reichhaltigkeit an Spezies um 64%. Pflanzen wie der gefährdete Saguaro-Kaktus können nur selten außerhalb solcher Zonen keimen, die Bäume wie der Eisenbaum schaffen. Der Eisenbaum und ähnliche Bäume schaffen buchstäblich das Ökosystem, in dem sie und andere Wesen leben.“

Die Eisenbaumgemeinschaften sind nur wegen ihrer relativen Isolation ungewöhnlich. In anderen Ökosystemen gibt es die selbe Sorte Beziehung zwischen den Schlüsselspezies, den Pionierpflanzen, die bei der Ansiedlung helfen, und untergeordneten Pflanzen, die den Lebens- und Energiefluss in der Gemeinschaft regeln. Natürlich begrenzt die Gemeinschaft als Ganzes, zu der auch Insekten, Bakterien, Vögel, Säugetiere und Pilze gehören, die Ausbreitung jedes Mitglieds und bei deren Ansiedlung und Versorgung ist Wettbewerb sicher im Spiel. Es ist aber ein Fehler, das Funktionieren der ganzen Gemeinschaft in diesen Kategorien verstehen zu wollen. Statt Wettbewerb als primär und Symbiose als irgendwie daraus entstehend zu betrachten, wäre es wohl einleuchtender, Wettbewerb als eine von mehreren Arten zu sehen, wie der Ressourcenfluss in einer Lebensgemeinschaft optimiert wird.

Das Verständnis menschlicher Gemeinschaften wird ähnlich verkrüppelt, wenn man darauf besteht, alle Gegensätzlichkeiten in Begriffen der Wettbewerbsökonomie zu sehen. Einige Anthropologen haben genau das versucht, indem sie den Handel zwischen Individuen oder Stämmen auf Nettogewinn an Kalorien oder Zeit untersuchten. Doch diese Art Analyse wird von der versteckten Annahme geleitet, dass Kalorien oder Zeit knappe Güter sind (ein ungleicher Tausch wäre kein Grund zur Besorgnis für Leute ohne Vorstellung von Zeit- oder Lebensmittelknappheit), und geht deshalb auf die Annahme zurück, dass das Leben ein Kampf ums Überleben war. Die orthodoxe Biologie enthält eine identische Annahme und kann wie die Anthropologie kein System vollständig verstehen, in dem Wettbewerb nachrangig ist. Irgend etwas fehlt immer.

Natürlich ist keine der oben beschriebenen Lebensgemeinschaften autonom. Alle Organismen und Mikrosysteme sind von der Gesundheit des Ökosystems abhängig, in dem sie leben, und jedes Ökosystem hängt von anderen, fernen Ökosystemen ab. Und alle höheren Lebensformen hängen von den Bakterien ab, welche die lebensspendende Atmosphäre erhalten. Während das Leben auf der Erde den Verlust einiger Gattungen tragen kann, ist jede auf die Gesamtheit angewiesen. Keine kann isoliert auf einem nackten, leblosen Planeten existieren. Wir sollten daher in Betracht ziehen, dass die einzig lebensfähige Einheit die Gesamtheit allen Lebens, einschließlich unbelebter Prozesse wie Wasser- und Kohlenstoffkreislauf, umfasst. Die Vorstellung von Organismen als autokatalytische Mengen führt in die Irre, denn kein Organismus ist völlig autokatalytisch. So wie Menschen auf essentielle Aminosäuren usw. angewiesen sind, sind alle Lebensformen auf das restliche Leben angewiesen, damit sie langfristig überleben können. Die einzige autokatalytische Menge ist der gesamte Planet, wenn überhaupt.

Beispiele wie die Plattwürmer und die Mykorrhiza sind keine Anomalien, keine seltsamen Kuriositäten der Natur. Sie sind allgegenwärtig. Zusammenarbeit findet man überall. Das Leben ist darauf angewiesen. Nur die kulturellen Scheuklappen darwinistischen „Überlebens des Stärksten“, einer Welt des „Kampfes jeder gegen jeden“, halten uns davon ab, das zu sehen. Wir leben in einer kooperativen biologischen Welt, einer lebenden Einheit, die wir Gaia nennen.

Manche mögen mit der Charakterisierung der Erde als lebendem Organismus hadern, doch sie besitzt viele Eigenschaften eines solchen, allen voran die homöostatische Regulierung der Temperatur, der Gase, der Salze und anderer Variablen. Jede Spezies trägt auf eine Weise zum Stoffwechsel und der Homöostase des Planeten bei. Korallen schaffen Lagunen, die das Salz aus dem Ozean entfernen helfen, welche sonst in nur 60 Millionen Jahren ihren Salzgehalt verdoppeln würden. Photosynthetische Algen und Regenwälder produzieren den Sauerstoff, der das Tierleben ermöglicht, während andere Mechanismen den Sauerstoffpegel davon abhalten, zu weit zu steigen und vernichtende planetenweite Waldbrände auszulösen. Bakterien beschleunigen die Gesteinsverwitterung, um der Atmosphäre Kohlendioxid zu entziehen, während Meerestiere das Kohlendioxid schließlich in Muscheln verwandeln, die letztendlich auf dem Meeresboden abgelagert werden. Und etwas, eine Kombination organischer und anorganischer Prozesse, hat die Oberflächentemperatur der Erde stabil gehalten, während sich die scheinbare Helligkeit der Sonne in drei Milliarden Jahren um 30-40% erhöht hat. Gaia hält ihre Homöostase aufrecht, reagiert auf äußere Reize und wächst, wenn auch nicht an Umfang, so doch wenigstens an Komplexität.45 Das einzige Attribut eines Lebewesens, das Gaia nicht besitzt, ist – so sagt man uns – die Fähigkeit zur Vermehrung.

Evolution wird oft als Wettrüsten veranschaulicht, bei dem Pflanzen immer ausgeklügeltere Chemikalien zur Verteidigung gegen Fressfeinde entwickeln, während die Insekten, die sich von ihnen ernähren, sich dieser Verteidigung anzupassen versuchen oder hungern müssen. Während es solche Beispiele in der Natur tatsächlich gibt, wie beispielsweise zwischen Gepard und Gazelle, ist es im Grunde eine untypische Situation, die wir als typisch hinstellen, weil es das ist, wonach wir suchen. Viel typischer ist die Beziehung zwischen der Douglasie und dem Fichtenknospenwurm. In Perioden sehr leichten Befalls zeigt der Baum keine Reaktion, aber wenn die Wurmzahlen steigen, verändern die Bäume ihre Terpenausschüttung auf eine Weise, die die Ernährung und Reproduktion des Wurms stört.46 Die Bäume versuchen nicht, den Fichtenknospenwurm und andere Plagen auszumerzen und die Erde zu übernehmen, sondern tragen lediglich dazu bei, die Wurmpopulation im rechten Ausmaß zu halten. Viele andere Pflanzen tun dasselbe; sie tolerieren moderate Nahrungssuche, reagieren jedoch aggressiv auf schweren Befall. Andere besitzen Stoffe, die nur in großen Mengen giftig sind, wie z.B. die Phytoöstrogene, welche die Reproduktion der Weidetiere stören, wenn sie im Übermaß gefressen werden.

Mit wenigen Ausnahmen sind moderne Menschen die einzigen Lebewesen, die glauben, dass es eine gute Idee sei, den Wettbewerb komplett auszumerzen. Die Natur ist kein gnadenloser Kampf ums Überleben, sondern ein enormes Netzwerk der Ausgewogenheit, das sicherstellt, dass jede Gattung den rechten Platz einnimmt. In der Tat hat die Auslöschung jeder Spezies normalerweise negative Folgen, die sich durch das ganze Ökosystem erstrecken, oft sogar zum Nachteil ihrer früheren Beute. Geht es dem Wild besser, wenn es endlich frei von der Tyrannei des Wolfes ist? Nur wenn man glaubt, dass Hungersnöte, Rindenfraß und die Schwächung der gesamten Waldökologie ein Fortschritt sind.

Das Studium der Ökologie führt zu der Anschauung, dass die Natur eher ein riesiges Geschenk-Netzwerk ist, als ein Netzwerk des Wettbewerbs und der Anhäufung. In seiner klassischen Arbeit „The Gift“ bemerkt Lewis Hyde, dass es in primitiven Kulturen in der Natur des Geschenks lag, dass es weitergegeben oder konsumiert werden musste – viele Kulturen verwendeten tatsächlich das Wort „gegessen“. Geschenke wurden nicht angehäuft. Genauso hat jede Gattung, jeder Organismus der Umwelt etwas zu geben, wodurch Ressourcen frei fließen. Sogar im Fall der Jagd offenbaren Redewendungen wie „Das Wild ergab sich dem Wolf“ eine unterbewusste Erkenntnis, dass es unter dem sehr realen Kampf um Leben und Tod eine schicksalhafte und intime Verbindung zwischen Jäger und Gejagtem gibt.

So wie Jäger und Sammler keine Besitztümer anhäuften, versuchen Tiere und Pflanzen nicht, sich die Welt untertan zu machen, indem sie Ökosysteme übernehmen und andere Gattungen auslöschen. (Opportunistische Pflanzen können ein Gebiet für eine Zeit „übernehmen“, machen aber bald komplexeren Ökosystemen Platz. Ihre schnelle anfängliche Übernahme könnte auch ein Geschenk an die Gemeinschaft sein, beispielsweise durch Stabilisierung entblößter Erde und Verhinderung von Erosion.) In einer geschenkbasierten Welt definieren die Bedürfnisse der restlichen Gemeinschaft einen Lebenszweck. Statt eines Überlebenskampfes ist das Leben ein Streben nach Vortrefflichkeit in der Rolle, die jedem Organismus oder jeder Person gegeben wurde.

Erst mit dem Auftreten der Landwirtschaft begannen Menschen in Begriffen der Eliminierung von Wettbewerb zu denken: Unkräuter, Wölfe und Insektenplagen. Was ist mit dem Rotwildproblem? Wir werden die Herden keulen und die Wildpopulation in den Griff bekommen. Was ist mit den Krankheiten, die Monokulturen befallen? Wir werden sie mit Chemikalien in den Griff bekommen. Das Projekt der Eliminierung von Wettbewerb fällt mit dem Streben zusammen, die Natur zu ordnen und in den Griff zu bekommen und gipfelt mit der Erfüllung des Technologischen Programms in der völligen Beherrschung der Natur. Oder, wie die Titelseite von Scientific American es einmal ausdrückte: „Planet Erde im Griff“.

Heute, wo das Zusammenlaufen der Krisen das Leben zunehmend unbeherrschbar macht, erkennen wir den Bankrott dieses Ehrgeizes. Um die falschen Voraussetzungen zu sehen, auf denen sie basierte, müssen wir uns nur die Natur ansehen. Als wir unsere eigene Entfremdung, unser Konkurrenzdenken und unsere Existenzangst auf die Biologie übertragen haben, sahen wir das Leben als einen Steiner’schen Krieg aller gegen alle, doch die Natur, wie auch die primitiven Gesellschaften, sind nicht so. Ja, es gibt Wettbewerb und es gibt Zeiten der Furcht, des Hungers und des Kampfes auf Leben und Tod, aber diese sind lediglich einige wenige Erscheinungen der Existenz, nicht deren innerstes Wesen. Die Gesamtheit des Lebens, Gaia, schafft Platz für jede Spezies, bis deren Zeit verstrichen ist. Wir leben, wie Lynn Margulis es ausdrückt, auf einem symbiotischen Planeten.

All das legt eine ziemlich verschiedene Art des Verhältnisses zur Natur nahe, was wiederum eine andersartige Form von Technologie nahelegt. Technologie, die immer auf die Regulierung, Unterdrückung und Substituierung von Natur ausgerichtet war, wird auf die Erfüllung unserer angestammten Rolle und Funktion in der Natur umgelenkt werden. Ich werde die Umrisse einer solchen Technologieform im nächsten Kapitel zeichnen und das Bild einer Zukunft mit Substanz füllen, die eine schöne Vorsehung für die Menschheit bereithält, einen Aufstieg, der gleichwohl die alte konsumorientierte Vorstellung von „Fortschritt“ ausdrücklich zurückweist. Ein besseres Wort für diesen Aufstieg ist vielleicht „Erfüllung“.

43 I. Wickelgren: Immunotherapy: Can Worms Tame the Immune System? Science Bd. 305, 2004, S. 170-171.

44 Buhner, Stephen Harrod, The Lost Language of Plants, Chelsea Green, 2002. S. 163

45 Nur zum Spaß möchte ich hier anmerken, dass einige abtrünnige Geologen glauben, dass der Planet wächst und nennen das als alternative Erklärung für die Kontinentaldrift.

46 Buhner, S. 160

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1998-2011 Charles Eisenstein