Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein

Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters

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Inhaltsverzeichnis:


Vom Überfluss zur Angst

Er muss von der Vergangenheit abgeschnitten werden, ... weil es notwendig ist, dass er glaubt, besser daran zu sein als seine Vorfahren, und dass sich das Durchschnittsniveau der materiellen Bequemlichkeit dauernd hebt.
–George Orwell, 1984

Unsere Identifikation der Langeweile als natürlicher Zustand menschlicher Existenz ist so vollständig, dass, wenn wir gefragt werden, sie zu definieren, die meisten Leute sagen: „Langeweile ist, wenn es nichts zu tun gibt.“ Das dies ein unangenehmer Zustand ist, kann keinesfalls logisch notwendig abgeleitet werden. Nicht nur prämoderne Völker, sondern auch das gesamte Tierreich scheint mit Inaktivität kein Problem zu haben. Diese Beobachtung lässt Zweifel aufkommen an einer der grundlegenden Lehren von der herkömmlichen Erklärung für die Technologiegeschichte, die Stephen Buhner im Kontext der Erfindung des Brauprozesses die „Angsttheorie“ nennt21. Allgemeiner besagt diese Auffassung, dass der technische Fortschritt getrieben wird durch den Überlebenskampf, und dass sich dieser Kampf, diese prekäre Existenz, in der menschlichen Physis und Psyche als Angst ausdrückt, die abgemildert wird, indem wir bessere Mittel zum Überleben erschaffen. Angst ist damit die Art und Weise, wie sich Lebensbedrohungen in Handlungen übersetzen, die diese Bedrohungen abfedern. Wir können die Angsttheorie folgendermaßen umformulieren: (1) das Leben ist gefährlich und das Überleben schwierig; (2) das macht uns Angst; (3) die Unannehmlichkeit dieses Gefühls treibt uns zur Kontrolle der gefährlichen oder schwierigen Umstände, beispielsweise durch Technologie; (4) nun fühlen wir uns weniger ängstlich.

Auf individueller Ebene behauptet die Angsttheorie, Langeweile ließe sich folgendermaßen erklären: wir können es uns wirklich nicht leisten, da zu sitzen und nichts zu tun. Wenn das Leben ein Wettlauf ums Überleben ist, dann sollten uns unsere Gene antreiben, den bestmöglichen Nutzen aus jedem Moment zu ziehen, um unsere Chancen des Überlebens und der Fortpflanzung zu erhöhen. Untätiges Herumsitzen widerstrebt unserer genetischen Programmierung, welche unangenehme Gefühle erzeugt, die uns antreiben, etwas produktives zu tun. Sicherlich ist es das, was viele Menschen während leerer Momente oder freiwilliger Experimente mit Meditation spüren: eine wogende Unruhe, die sagt, „Ich sollte irgendetwas tun.“ Dieser kulturelle Zwang ist so stark, dass selbst spirituelle Praktiken, wie Meditation oder das Gebet, leicht umgewandelt werden in etwas, das man tut, Momente, die der Kampagne zur Lebensverbesserung gewidmet sind.

Trifft die Angsttheorie zu? Frage einige zufällige Menschen auf der Straße, und du wirst finden, dass die meisten nicht zu einem primitiven Leben vor der Technologie zurückkehren möchten. Wir malen uns ein dunkles Bild vom primitiven Leben als unbequemen, nie enden wollenden Kampf um die Existenz. Diese Annahme ist die Wurzel unserer kulturellen Überzeugung, dass die Technologie uns vor den Launen der Natur gerettet und dass sie uns in die Lage versetzt hat, unser höheres Potential zu entwickeln. Hier haben wir den „Aufstieg der Menschheit“ im Kern kurz zusammengefasst.

Das Hauptproblem mit dieser Ansicht ist, dass das Leben in der Steinzeit überhaupt nicht notwendigerweise „hässlich, brutal und kurz“ war. Ethnologische Studien an isolierten, steinzeitlichen Jägern und Sammlern und vormodernen Bauern legen nahe, dass „primitive“ Völker, weit davon entfernt, von Angst getrieben zu sein, Leben mit relativer Leichtigkeit und Überfluss lebten. Ein oft zitiertes Beispiel sind die !Kung aus der Kalahari Wüste Südafrikas, die vom Anthropologen Richard Lee22 studiert wurden. Er folgte ihnen für etwa vier Wochen, führte Tagebuch über ihre Aktivitäten und errechnete eine durchschnittliche Wochenarbeitszeit für ihren Lebensunterhalt von etwa 20 Stunden. Diese Zahl wurde durch Folgestudien in der gleichen Region von Lee und anderen Forschern bestätigt. In einem unwirtlichen Klima genossen die !Kung ein freizeitorientiertes Leben mit einer hochgradig vollwertigen Ernährung. Dies ist zu vergleichen mit dem modernen Standard einer Vierzigstundenwoche. Wenn wir Pendelzeiten, Einkaufen, Hausarbeit, Kochen etc. hineinrechnen, verbringt der typische US-Amerikaner etwa 80 Stunden pro Woche nicht mit Freizeit, Essen und Schlaf. Zum Vergleich, die !Kung verbringen nur etwa 40 Stunden mit Arbeit, wenn man nötige Aktivitäten, wie die Herstellung von Werkzeugen und Kleidung hinzurechnet.

Andere weltweite Studien und auch der gesunde Menschenverstand legen nahe, dass die !Kung keine Ausnahme sind. In üppigeren Gegenden war das Leben möglicherweise noch leichter. Darüber hinaus waren große Anteile der „Arbeitszeit“ in diesen 20 Stunden der Aktivität für den Lebensunterhalt alles andere als anstrengend oder belastend. Die meisten von Männern verbrachten Stunden zur Unterhaltssicherung bestanden aus der Jagd, etwas, dass viele bei uns zur Entspannung in ihrer Freizeit machen, während die Arbeit beim Sammeln Gelegenheit für Scherzereien und häufige Pausen bot.

Primitive Kleinbauern genossen ein ähnlich gleichmütiges Lebenstempo. Nehmen wir einmal Helena Norberg-Hodges Beschreibung des vormodernen Ladakh, einer Region im indischen Teil der Tibetischen Hochebene23. Trotz einer nur viermonatigen Wachstumsperiode genoss Ladakh regelmäßige Nahrungsüberschüsse, lange und häufige Festivitäten und Feiern und reichlich Freizeit – vor allem im Winter, wenn es auf dem Felde wenig zu tun gab. All dies, trotz des unwirtlichen Klimas und einer verhältnismäßig enormen, nicht arbeitenden Mönchsgemeinde in den zahlreichen buddhistischen Klöstern des Landes! Sehr viel eindrucksvoller als durch irgend eine Statistik gibt einem Norberg-Hodges Filmdokumentation „Ancient Futures“ einen Eindruck vom gemächlichen Leben dort: Dörfler schwatzen oder singen bei der Arbeit, nehmen sich viele und lange Pausen selbst in der fleißigsten Zeit des Jahres. Wie die Erzählerin sagt: „Arbeit und Muße sind eins.“

Ein Leben in der heutigen, erschöpften Welt erschwert die Vorstellung vom vormaligen Überfluss:

Frühe europäische Zeugnisse von der Opulenz des amerikanischen Kontinents grenzen an das Unglaubliche. Wir lesen immer wieder von „guten Wäldern voller Wild, Kaninchen, Hasen und Geflügel in unglaublichem Überfluss selbst im Hochsommer“, von Inseln „so vollständig bedeckt mit Vögeln, deren Nester so dicht stehen, wie das Gras auf der Weide“, von Flüssen, so voller Lachse, dass „man nachts von ihrem Krach nicht schlafen kann“ ... 24 Diese und andere Wunder – Schwärme von Wandertauben und Eskimo-Brachvögel (beide ausgestorben), die den Himmel für Tage verdunkelten – Nahrungsgrundlage für die eingeborene Bevölkerung des Kontinents. Was für ein Existenzkampf kann das Leben da wohl gewesen sein? Auch zu beachten ist die Tatsache, dass dieser Überfluss herrschte, obwohl Menschen diesen Kontinent schon seit mindestens 12.000 Jahren bevölkerten. Es ist nicht so, dass die Eingeborenen Amerikaner nicht genug Zeit gehabt hätten, diese Ressourcen zu erschöpfen. Wir können nicht schließen, dass ihre Einstellung des einfachen Überflusses eine vorübergehende Konsequenz eines reichen natürlichen Kapitals war; ihre Beziehung mit der Natur hat zusätzlich diesen Überfluss bewahrt und gestützt.

Entscheidender als die tatsächliche Zeit, die für den Lebensunterhalt verwendet wurde, war die Einstellung der Jäger und Sammler zum Lebensunterhalt, die im allgemeinen entspannt und lässig war. Marshall Sahlins beschreibt es so:

[Der Jäger] pflegt die Sorglosigkeit auf hohem Niveau, was sich in zwei komplementären ökonomischen Neigungen äußert. Die erste ist verschwenderisches Verhalten: die Neigung, alle Nahrung im Lager aufzuessen, selbst während offensichtlich schwieriger Zeiten, „als ob das noch zu erlegende Wild in einem Stall untergebracht wäre“. Basedow schrieb über eingeborene Australier, ihr Motto „könne interpretiert werden als, solange es nur heute genug gibt, sorge dich nicht um morgen. Auf diese Weise hat der Aboriginal einen Hang dazu, einen Festschmaus aus seinen Vorräten zu machen, anstatt sie sich in mehrere bescheidene Mahlzeiten einzuteilen.“
... Eine zweite und gegenläufige Neigung ist lediglich die Kehrseite des Verschwenderischen: das Versagen, Nahrungsüberschüsse aufzuheben, um Rücklagen zu bilden. Es erscheint, als sei den Jägern und Sammlern weder die Nahrungsspeicherung technisch unmöglich, noch ist es sicher, dass ihnen die Möglichkeit nicht bewusst sei. Man müsste stattdessen untersuchen, was sie in der Situation von dem Versuch abhält. Gusinde fand die Antwort für die Yaghan in eben demselben begründeten Optimismus. Speicherung wäre „überflüssig, da Sie durch das ganze Jahr und mit fast grenzenloser Großzügigkeit alle Arten von Tieren zur Verfügung des jagenden Mannes und der sammelnden Frau stellt. Sturm oder Unfall werden einer Familie diese Dinge für nicht mehr als ein paar Tage entziehen. Im allgmeinen braucht niemand mit der Gefahr des Hungers zu rechnen, und ein jeder findet fast überall einen Überfluss dessen, man er braucht. Warum also sollte sich jemand sorgen um das Essen für die Zukunft ... Letztendlich wissen unsere Stammesangehörigen [Fuegianer], dass sie für die Zukunft nicht zu fürchten brauchen, deshalb häufen sie keinen Berg an Versorgung auf. Jahr ein und Jahr aus können sie dem nächsten Tag ohne Sorge entgegensehen....“25

Es ist bedeutsam, dass die Aboriginalstämme typischerweise Nahrung als „Geschenk“ des Landes, des Waldes oder der See bezeichnen. Für uns moderne Menschen ist das eine charmante Metapher; für die vorlandwirtschaftlichen Völker war die Vorsehung der Erde lebende Realität. Das Land versorgt uns mit allem – Pflanzen wachsen, Tiere werden geboren – ohne die Notwendigkeit menschlichen Eingreifens oder Planens. Geschenke sind nichts, das man sich verdienen müsste. Das Leben als das Erhalten von Geschenken zu sehen, spricht von einer Einstellung des Überflusses und nährt natürlicherweise eine Mentalität der Dankbarkeit. Erst mit der Landwirtschaft wurden die frei erhaltenen Geschenke des Landes zu Tauschobjekten, zuerst als Austausch von Arbeit für die Ernte und schließlich als Objekte des Handels. Im Gegensatz dazu steht die Mentalität des Geschenks in Zusammenhang mit der Lässigkeit des Nahrungssammlers, die sinnvoll ist, wenn die Notwendigkeiten des Lebens zur Verfügung gestellt und nicht abgerungen werden.

Vielleicht können wir die Angsttheorie noch retten – was ist mit den Krankheiten? Wenn ich Studenten auffordere, die wertvollsten Errungenschaften moderner Technologie zu nennen, werden sie unweigerlich auf die Medizin verweisen, die uns, wie sie behaupten, auf ein in der Geschichte nie dagewesenes Niveau der Gesundheit, Sicherheit und Langlebigkeit gehoben hat. Diese Sichtweise ignoriert allerdings die Macht und Verfeinerung traditioneller kräuterkundlicher Medizin, um die in jener Zeit üblichen Wunden und Krankheiten zu heilen. Sie muss sich auch mit den Beobachtungen von Weston Price auseinander setzen, ein amerikanischer Zahnmediziner des frühen zwanzigsten Jahrhunderts26. Price war interessiert am Verfall der Zahngesundheit, die er über Jahrzehnte in seiner Arbeit bemerkte, und er vermutete, dass der sprunghafte Anstieg in der Anfälligkeit für Karies, Zahnfehlstellung und eine Reihe anderer, zuvor seltener, nicht-dentaler Erkrankungen etwas mit unserer Ernährung zu tun haben könnte. Er gab seine Praxis auf und verbrachte einige Jahre mit Reisen in entfernte Gegenden der Welt, wo noch Menschen ohne moderne Nahrung lebten. Die Gesellschaften, die er besuchte, waren nicht alle steinzeitlich, aber sie waren nach unsere Maßstäben dennoch primitiv. Er reiste in abgelegene, nur mit dem Maultier erreichbare schweizer Bergdörfer und zu den äußeren schottischen Inseln; er lebte mit den Massai in Afrika, den Inuit in Alaska, den Aborigines in Australien und den Polynesiern im Pazifik. An all diesen Orten fand er kaum Karies, keine Fettleibigkeit, keine Herzkrankheiten und kein Krebs. Stattdessen beobachtete er hervorragende physische Ausdauer, einfache Geburten und breite Kiefer mit allen 32 Zähnen. Die Ernährung war überall unterschiedlich, doch hatten sie einiges gemeinsam. Die Menschen aßen sehr wenig raffinierte Kohlenhydrate, viel vergorene Produkte und größere Mengen Fette und Innereien. Ihre Vitaminzufuhr übertraf unsere heutige Norm um ein Vielfaches. Price Arbeit liefert Hinweise für die Behauptung, dass primitive Völker wenigstens in mancher Hinsicht eine bessere Gesundheit genossen, als wir es heute kennen, selbst ohne die moderne Medizin, von der wir denken, sie hielte uns gesund.

Ich möchte das Leben vor der modernen Technologie hier aber nicht idealisieren. Sicherlich waren wir den Elementen in stärkerem Maße ausgesetzt: Hitze, Kälte, Regen und Wind. In Ladakh froren die Menschen häufig in der Winterzeit. Bei den !Kung ergaben die besten Nahrungsquellen in bestimmten Zeiten des Jahres nur geringe Erträge, und die Menschen verloren in der Trockenzeit typischerweise ein paar Pfund. Manchmal waren die Leute sogar sehr hungrig. Während Infektionskrankheiten in den Tagen vor der hohen Bevölkerungskonzentration selten waren und auch degenerative Erkrankungen vor der Ankunft industrieller Nahrungsbereitung kaum vorkamen, gab es jedoch reichlich andere Bedrohungen für Leib und Leben. Gelegentlich wurde ein Kind von einem Löwen oder einer Hyäne getötet. Die !Kung, ein friedliebendes und freigiebiges Volk, erleben manchmal sogar Mord, für gewöhnlich begründet durch sexuelle Eifersucht, die zu blutigen, jahrzehntelangen Feden führen kann27.

In anderen Teilen der Welt lebten Stämme von Jägern und Sammlern in einem Zustand fortwährender Kriege geringer Intensität mit gelegentlichen Ausbrüchen erschreckender Gewalt – so wird zumindest behauptet. Am berüchtigtsten sind die Stämme aus dem Hochland Neu-Guineas mit berichteten Sterblichkeitsraten junger Männer durch Gewalt von 20-30%28, und die Yanomamo Indianer des Amazonas, unsterblich gemacht von Napoleon Chagnon in seinem Buch „Yanomamo: The Fierce People“. Chagnon behauptet, dass diese „lebenden Ahnen“ in einem Zustand fortwährender Kriegsführung leben, in welchem etwa 44% der erwachsenen Männer getötet werden29. Andere wiederum bestehen darauf, dass diese Zahlen weit übertrieben seien30. Es geht um viel: vielleicht ist die Gewalt fest in unsere Gene geschrieben. Chagnons Mentor, der Genetiker James Neel,“ dachte, dass die moderne Kultur mit ihren die Schwachen unterstützenden Interventionen dysgenisch sei. Sie sei zu weit abgekommen von den menschlichen Bevölkerungsstrukturen: kleine, relativ isolierte Stämme, in denen die Männer miteinander um den Zugriff auf die Frauen konkurrierten – und zwar gewalttätig. In diesen Gesellschaften, so nahm Neel an, würden die besten Kämpfer die meisten Frauen und Kinder haben und würden häufiger ihren genetischen „Fähigkeitsindex“ an die nächste Generation weitergeben, was zu einer kontinuierlichen Qualitätsverbesserung des Genpools führte.“31

Sind wir aufgestiegen aus eine Hobbesschen Vergangenheit der Gewalt und der Angst? Wie könnten wir uns sonst die kriegerische Natur so vieler primitiver Völker erklären, der wir begegnet sind? War unsere Art festgelegt auf fortwährenden Krieg, bis wir durch Kultur die genetische Programmierung der dominierenden „dämonischen Männer“ überwunden haben?

Tatsächlich entsprang die Gewalt, die Chagnon beobachtete, nach einem typischen Muster hauptsächlich den Verstörungen, die durch westlichen Kontakt initiiert wurden, und ironischerweise durch seine eigene Präsens. Der investigative Journalist Patrick Tierney schreibt: „Kenneth Good, der während seiner Doktorarbeit mit Chagnon arbeitete, lebte zwölf Jahre bei den Yanomami – länger als irgendein amerikanischer Anthropologe. Good nennt Chagnon „einen Fahrerflucht-Anthropologen, der mit den Armen voller Macheten in Dörfer kommt, um sich die Kooperation für seine Forschung zu erkaufen. Unglücklicherweise erschafft er Konflikte und Spaltung wo immer er hingeht.“32 Tierney fährt fort:

Der Anthropologe Brian Ferguson von der Rutgers Universität veröffentlichte 1995 ein Buch mit dem Titel „Yanomami Warfare: A Political History“, das die soziobiologischen Theorien aus „The Fierce People“ und anderen Studien von Chagnon herausforderte. Ferguson, dessen Buch hunderte Quellen analysiert, schrieb, dass die meisten dokumentierten Yanomamikriege durch äußere Störungen bewirkt wurden, im besonderen durch die Einführung von Eisenwaren und neuen Krankheiten. Ferguson bemerkte, dass Äxte und Macheten bei den Yanomami zu hochbegehrten Gegenständen für Landwirtschaft und Tauschhandel wurden. Nach seinem Bericht stürzten christliche Missionare das Yanomamigebiet, wo sie in den Fünfzigern eintrafen, unabsichtlich in einen Krieg, als sie Äxte und Macheten verteilten, um Bekehrte zu gewinnen. Nach einer Zeit wurden einige der Missionen zu Zentren der Stabilität und Bezugspunkt für dringend benötigte Medikamente. Doch Chagnon, dessen Studien zur Sterblichkeitsrate der Yanomami ihn von Dorf zu Dorf führten, verteilte Eisenwaren, um die Menschen zu überreden, ihm die Namen ihrer verstorbenen Verwandten zu nennen – eine Vergewaltigung von Stammestabus ... und diese Methoden destabilisierten die gesamte Region – in Konsequenz beförderte er damit die Art von Krieg, die er der Grausamkeit der Yanomami zuschrieb. Dies mag ein extremes Beispiel sein, doch das zugrundeliegende Prinzip dürfte klar sein. Es ist sehr schwierig zu wissen, wie irgendeine Gesellschaft „vor dem Kontakt“ beschaffen war. Die Auswirkungen westlicher Technologie, Krankheitserregern und Wirtschaft gehen den ersten Anthropologen selbst in die entlegendsten Regionen gemeinhin voraus und initiieren einen sozialen Zusammenbruch. Dasselbe gilt für nicht menschliche Gemeinschaften. Wie die Primatenforscherin Margaret Power demonstriert, entsteht das mörderische Verhalten von Schimpansen in der Wildnis, das häufig als Beweis unserer eingeborenen Verdorbenheit herangezogen wird, nur in verstörten Populationen – was genau genommen alle Populationen betrifft, auf die Forscher Zugriff haben33. Genauer betrachtet reduzieren die Forschungsmethoden die Mobilität und erzeugen so Konflikte. Wenn wir die kriegerische Natur von Primaten und Primitiven betrachten, sehen wir womöglich zum großen Teil unseren eigenen Schatten.

Die Debatte über primitive Wildheit geht mindestens zurück bis zu Rousseaus „edlen Wilden“ versus Hobbes „gemeine, brutale und kurze“ Naturverfassung. Auch heute lebt diese Debatte noch fort. Ich überlasse die Frage den Anthropologen, doch eine Sache ist klar: Der Tod, ob nun durch menschliche oder natürliche Einwirkung, war ein sehr sichtbarer Teil der primitiven Zeiten. Tod und Missbehagen sind heutzutage weniger sichtbar, doch bedeutet das nicht, wir hätten sie besiegt. Wir haben sie nur verborgen. Vielleicht hatte selbst Hobbes recht, dass unser Aufstieg nur eine Illusion sei.

Auch die Natur kann grausam sein, zumindest aus gegenwärtiger Sicht. Was ist mit all den Kaulquappen, die von Fischen verschlungen werden, bevor sie die Freuden des Froschseins genießen können? Die meisten Tiere haben natürliche Fressfeinde mit Ausnahme einiger weniger großer Fleischfresser und der größten Pflanzenfresser, die wiederum ihre eigenen Arten der Unsicherheit durchleiden müssen. Des Technologischen Programms unbenommen ist das Leben auf allen Ebenen grundlegend unsicher. Und dennoch scheint der Rest des Tierreichs nicht von Angst verzehrt zu werden. Tiere verbringen viel Zeit mit Pflege, Spiel und Faulenzen. Müssen Vögel wirklich die ganze Zeit singen, um einen Partner zu finden oder ein Gebiet zu beanspruchen? Selbst die Biene – Galionsfigur des Fleißes – verbringt offenbar viel Zeit vollkommen untätig im Stock34.

Die Unnatürlichkeit fortwährender Angst ist auch in unserer Physiologie abzulesen, welche nicht dafür ausgelegt ist, fortwährende Stimulation des sympathischen Nervensystems und seiner Stresshormone zu verkraften. Wir haben uns im Allgemeinen entwickelt, um mit Bedingungen genereller Freizeit und Entspannung umzugehen, unterbrochen von gelegentlichen Ausbrüchen und Notfallreaktionen. Viele physiologische Funktionen, wie etwa die Verdauung, Gewebsaufbau und Immunabwehr funktionieren überhaupt am besten unter entspannten Bedingungen. Der Stress, den wir für normal halten, beeinträchtigt diese Funktionen und schädigt damit unsere Gesundheit.

Zuletzt finden wir ein Anzeichen dafür, dass Angst in der Tat nicht der Grundzustand menschlicher Existenz ist, im relativen Fehlen von Angst in Kulturen, die vielleicht nicht primitiv, wohl aber nicht vollständig in das Sozialmodell der westlichen Industriewelt eingebettet sind. Man findet in nahezu beliebigen Ländern der Dritten Welt, dass die Menschen in Abwesenheit von Krieg oder intensiven zivilen Unruhen generell lockerer, weniger ängstlich, weniger getrieben und weniger wettbewerbsorientiert sind als bei uns. Wie der alt bekannte Witz, in Mexiko erledigt sich alles mañana (= Morgen, d.h. irgendwann, nur nicht Jetzt). In Taiwan, wo die Modernität so schnell Fuß gefasst hat, dass die althergebrachte, bäuerliche Kultur Seite an Seite mit der Jugendkultur der Mobiltelefone und des Fastfood noch immer bei den Menschen der älteren Generation sichtbar ist, können wir auch noch immer Spuren des einstigen langsameren Lebenstempos beobachten. Während Chinas Neujahrsfest heute ein fünftägiger oder gar nur dreitägiger Urlaub ist, dauerte es früher zwei Wochen. Andere Feste waren ähnlich ausgedehnt und bedurften langwieriger Vorbereitungen an Kostümen und Speisen, die heute bloß noch in Geschäften gekauft werden. Und jeden Tag teilte eine ausgedehnte Mittagsruhe den Arbeitstag. Ob nun in Taiwan oder irgendwo sonst in der Welt ist das Lebenstempo in traditionelleren Landesteilen – z.B. in den Südstaaten der USA – viel langsamer, weniger unter Druck und gemächlicher. Wenn man diese Gemütshaltung vergangener Zeiten vertiefend ausdeutend, ergibt sich der Eindruck, eine ruhige und gemächliche Lebensauffassung beschreibt die naturgemäße Ausrichtung unserer Existenz, und nicht etwa die Angst. Hören wir uns die folgende Beschreibung der Arbeitseinstellung einer Gruppe südamerikanischer Jäger und Sammler an:

Die Yamana sind der fortgesetzten, täglichen harten Arbeit nicht fähig, sehr zum Verdruss der europäischen Farmer und Arbeitgeber, für die sie oft arbeiten. Ihre Arbeit ist mehr eine Sache der Anfälle und Anläufe, und bei diesen gelegentlichen Anstrengungen können sie für eine gewisse Zeit erstaunliche Energien entwickeln. Danach allerdings zeigen sie ein Verlangen nach unberechenbar langen Ruhephasen, während derer sie untätig herumliegen, ohne große Erschöpfung zu zeigen... Es ist offensichtlich, dass wiederholte Unregelmäßigkeiten dieser Art die europäischen Arbeitgeber in die Verzweiflung treiben, doch die Indianer können nicht anders. Es ist ihre natürliche Veranlagung35.

Eine rassistische Interpretation dieser Passage kann leicht behoben werden, indem man den leisen Verdacht, dies könne auch unsere natürliche Veranlagung sein, anerkennt. „Ihre Arbeit ist eine Sache der Anfälle und Anläufe...“ Beschreibt dies nicht auch ein Kind? Werter Leser, verspürst du nicht auch manchmal das Verlangen, dich „auszuruhen“, selbst wenn du nicht müde bist? Dass unser tatsächliches Verhalten unseren „natürlichen Veranlagungen“ widerspricht, ist ein Beleg für die Kraft unserer Kulturanpassung. Wir wurden überzeugt, dass wir es uns nicht leisten können, so zu leben, und deshalb zwingen wir uns und unserer Kinder Verhalten dazu, diese Veranlagung zu überwinden und hart zu arbeiten. So wie die Technologie versucht, die Natur zu verbessern, versucht die Kultur, die menschliche Natur zu verbessern.

Einer Steinzeit-Gesellschaft Wohlstand abzusprechen, erscheint ideologisch notwendig, sonst würde der Mythos vom Aufstieg seine Grundlage einbüßen. Die Sicht Hobbes’ auf den Zustand der Natur – gemein, brutal und kurz – motiviert und rechtfertigt das gesamte Technologische Programm. Es ist im Mythos des Fortschritts und der Ideologie des Aufstiegs eingebaut. Daher sehen auch Viele, die in ihrer gegnerischen Position die Steinzeit als Wohlstands-Gesellschaft befürworten, Technologie und Kultur als eine lange Pannenserie, einen Sündenfall, einen Abstieg. Eine andere Sicht ist aber auch noch möglich. Vielleicht hat unsere lange Anhäufung von Technologie und Kultur einen gänzlich anderen Zweck – weder die Minimierung von Leid noch die Vervollständigung der Kontrolle – einen Zweck, den wir aber erst noch erkennen müssen.

Ein weiterer Grund für die Annahme, dass das Leben früher ein von Angst beherrschter Kampf ums Überleben war, liegt darin, dass wir unsere eigene Erfahrung in die Vergangenheit projizieren. Wie Stephen Buhner deutlich macht, wäre ein jeder von uns sicherlich ziemlich ängstlich und würde um sein überleben kämpfen, wenn wir plötzlich in primitive Bedingungen geworfen wären. Aber es gibt auch noch einen tieferen Aspekt der Projektion: Wir glauben, dass Angst ihr Leben beherrschte, weil Angst unser Leben beherrscht. Wir sind diejenigen, die den Kampf ums Überleben fühlen, nicht sie.

Nehmen wir unser ökonomisches Paradigma. Während in primitiven Gesellschaften Kooperation die Regel war, ist es in unserer Gesellschaft der Wettbewerb. Mehr für dich bedeutet weniger für mich. Ich muss mein Territorium abstecken und meine Interessen schützen. Selbst die Bildung basiert auf dem Wettbewerb um Zensuren, welche implizit mit späterem Erfolg im Leben verbunden sind, d.h. Überleben. Sowohl unsere Seinslehre als auch unsere Ökonomie versetzen uns in Wettbewerb miteinander und erzeugen damit Angst. Am besten aber lässt sich die machtvolle Rolle der Angst in unserem Leben auf der persönlichen Ebene beobachten, indem wir die Gefühle und Überlegungen untersuchen, die wichtige Lebensentscheidungen bestimmen.

Jedes Semester mache ich eine Erhebung unter meinen Studenten an der Penn State und fordere sie auf, den folgenden Satz zu vervollständigen: „Ich bin an der Penn State, ...“ (a) um einen Abschluss zu erhalten, der mir einen guten Job verschafft; (b) weil meine Eltern das so wollen, und ich möchte sie nicht enttäuschen; (c) ich weiß nicht, nach der Schule kommt eben das Studium; (d) weil dies der Weg ist, meinen Wissensdurst zu stillen. Und jedes Semester wählen 70-90% der Studenten Antwort (a). Etwa 5-10% entfallen auf (b) und (c), während (d) im Mittel nur 2-5% erhält. Mit anderen Worten, die meisten Studenten sind an der Penn State, weil sie das Gefühl haben, hier sein zu müssen, um einen Abschluss zu erhalten, was eine sichere Anstellung bedeutet, was Geld bedeutet, das wir für die grundlegenden Notwendigkeiten des Überlebens benötigen: Nahrung, ein Dach über dem Kopf und Kleidung. „Mit anderen Worten“, so sage ich ihnen, „sind sie größtenteils hier, aus Überlebensangst. Hey, es ist ein herrlicher Tag! Warum seid ihr heute Nachmittag nicht draußen, Frisbee spielen? Warum verbringt ihr eure Zeit nicht mit Freunden? Warum spielt ihr nicht Gitarre auf der Wiese? Ist es, weil ihr eure Seminare und Studien so sehr liebt, dass ihr euch einfach nicht von ihnen losreißen könnt? Ihr seid jung, warum reist ihr nicht in der Welt herum?“ Es ist, weil sie das Gefühl haben, sie „könnten es sich nicht leisten“, dass es nicht praktikabel wäre, dass es auf irgend eine Weise ihre Fähigkeit, finanzielle Sicherheit zu erreichen, beeinträchtigen könnte. Und selbst dies sind bloße Rationalisierungen hintergründiger Furcht und Schuld, die uns in jedem Augenblick der Freizeit verfolgt. Einmal gab ich eine Hausaufgabe, in der die Studenten nach Hause gehen und 15 Minuten mit absolutem Nichtstun verbringen sollten. Ein Student schrieb: „Eigentlich war das einzige, woran ich die ganzen 15 Minuten denken musste, die Arbeit, die ich in der Zeit hätte erledigen können.“ Das ist eine typische Reaktion.

Weil unsere Gesellschaft das Geld so eng mit dem Überleben verbindet, gibt uns der Refrain „Ich kann es mir nicht leisten“ eine Ahnung von der Überlebensangst, die so vielen unserer Lebensentscheidungen zugrunde liegt, kleinen wie großen. „Ich kann es mir nicht leisten“ ist sicherlich nicht beschränkt auf Situationen, in denen wir Einkäufe tätigen. Es deutet auf die Monetarisierung des gesamten Lebens. So wie die Sphäre der monetarisierten menschlichen Aktivität wächst, so wächst auch die Allgegenwärtigkeit der Angst, die das verknappungs- und wettbewerbserzeugende Geldsystem gebiert. Zu entscheiden aufgrund dessen, was wir uns leisten können, heißt wählen aus einer Position des Mangels. Die Logik des zinsbasierten Geldes, welche ich in Kapitel IV beschreiben werde, stellt sicher, dass wir nie genug haben.

Weil die Angst eine so mächtige Kraft in unseren Leben ist, projizieren wir sie auf das primitive Leben und nehmen von ihm daher ebenfalls an, dass es von Angst getrieben war.

Ebenso projizieren wir unsere eigene Angst auf die Biologie, wenn wir sie vornehmlich als Wettbewerb betrachten, der durch die Erfordernisse des Überlebens und der Reproduktion getrieben wird. Die Angsttheorie ist im Grunde eine Neuformulierung des Darwinismus, angewendet auf die menschlich technische Entwicklung. Die Gene eines jeden Organismus programmieren ihn, alles in seiner Macht stehende zu tun, um die Bedrohungen für ihr Überleben abzuwenden; jedes Gen, das dies nicht bewerkstelligt, würde über kurz oder lang den Genpool verlassen. Angst ist eine dieser Programmierungen, die Verbreitung von Schrecken eine andere. Technologischer Fortschritt ist so gesehen ein Ausdruck des Darwinschen Überlebenstriebs.

So wie in der Ökonomie, werden in der Biologie individuelle Akteure postuliert, d.h. die Gene verhalten sich so, dass sie ihre Eigeninteressen, also die Mittel zum Überleben und zur Reproduktion, maximieren. Unser grundlegendes Verständnis der Biologie und damit des Lebens und speziell des Fortschritts in der Biologie, also der Evolution, ruht auf der Grundlage des Überlebenswettbewerbs. Es nimmt daher nicht Wunder, dass wir das menschliche Leben und den menschlichen Fortschritt mit den gleichen Konzepten sehen. Die Angst, die so vieles am modernen Leben definiert, ist eingebaut in unsere Konzeption davon, was es bedeutet, am Leben zu sein und was es bedeutet, ein Mensch zu sein.

Die Sichtweise des Lebens als Überlebenskampf ist mit unserer Weltauffassung noch auf einer viel tieferen Ebene verknüpft als der Darwinismus. In der Tat lassen unsere führenden wissenschaftlichen Prinzipien keine andere Möglichkeit zu. Der Wettbewerb ist immanent in unseren tiefsten kulturellen Überzeugungen vom Selbst als unabhängigem Wesen, verschieden und getrennt von der Umwelt und anderen Lebewesen. Diese Überzeugung erreichte ihre volle Blüte mit René Descartes, der das Selbst als einen diskreten Punkt des Bewusstseins, als eine nicht materielle Seele getrennt von der materiellen Realität identifizierte und mit Francis Bacon, der das Ideal der Objektivität in der Wissenschaft und die Unabhängigkeit des Beobachters von der sachlichen Realität ausrief. Das Fundament der Wissenschaft bringt die Trennung mit sich. Wenn die Definition des Selbst und allgemeiner eines jeden Organismus exklusiv und diskret ist, dann kann jedwede wechselseitige Abhängigkeit als lediglich bedingt durch Begleitumstände prinzipiell eliminiert werden. Das ist auch bekannt als „Unabängigkeit“ oder „Sicherheit“ – nicht von anderen abhängig zu sein. Wesen sind natürlicherweise im Wettbewerb miteinander, denn mehr für mich ist weniger für dich.

Die andere Schlüsseleigenschaft des Darwinismus, die mit unserer grundlegenden Wissenschaftsideologie konform geht, ist ihre Zwecklosigkeit und Zufälligkeit, Eigenschaften, die eine weitere Quelle unserer Angst ausmachen. Der Darwinismus repräsentiert den tapferen Versuch, die Ordnung und Spontaneität des Lebens mit den mechanischen, deterministischen Gesetzen der klassischen Physik in Einklang zu bringen. Mit den Worten Richard Dawkins’, einer der eloquentesten Verfechter des Darwinismus: „Das Universum, das wir beobachten, hat genau die Eigenschaften, die wir erwarten sollten, wenn es in letzter Konsequenz keinen Plan, keinen Sinn, kein Gut und kein Böse gäbe, nichts als blinde, gnadenlose Gleichgültigkeit.36

Das klassische Verständnis vom Universum, in welchem alle Dinge aus Atomen37 und Leere zusammengesetzt sind, gibt Anlass zu einer weiteren Stufe der Angst, einer Angst, die der Leser des obigen Dawkins Zitats gefühlt haben mag. Das ist, um Robert Lenoble zu zitieren, die „Angst des modernen Menschen“, die aus der Erkenntnis kommt, dass auch wir aus nicht weniger und mehr bestehen, als alle anderen Objekte des Universums: aus Atomen und Leere. Vielleicht lauert unter dem beliebig gewählten diskreten Seinszustand, den wir uns zugeordnet haben, eine Art existentieller Panik, der Verdacht, dass wir vielleicht in einem fundamentalen Sinne überhaupt nicht existieren. Hierin liegt auch eine Entfremdung des menschlichen Geistes von den kalten, deterministischen und unpersönlichen Gesetzen der Physik, ein Verdacht, etwas wesentliches sei unberücksichtigt.

Sigmund Freud wird oft zitiert mit den Worten: „Das Ziel der Psychoanalyse ist es, das neurotische Elend in gewöhnliches Unglücklichsein zu verwandeln.“ Tatsächlich wurde er zwar aus dem Kontext gerissen zitiert, doch deutet die bloße Tatsache, dass es sich so hartnäckig hält, auf die Unmöglichkeit, wirkliches Glück innerhalb unserer gegenwärtigen Weltsicht zu finden.

Angst und Langeweile fließen aus einer gemeinsamen Mündung von Quellen. Erstens hat uns die Technologie voneinander, von der Natur und von uns selbst getrennt und fügte uns die Innere Wunde der Trennung zu. Darüber hinaus trägt die Definition des Selbst als diskretes Ding, fundamental abgegrenzt von anderen Wesen und der Umwelt, zu unserer psychischen Einsamkeit bei. Drittens webt die wettbewerbsorientierte Sicht der Welt, die mit dem Gebäude der Wissenschaft untrennbar verbunden ist, die Angst in unser Netz des Lebens selbst, welches damit zu einem Wettlauf ums Überleben wird. Zuletzt erschafft der Glaube, das Universum bestehe auf der grundlegendsten Ebene aus atomaren Partikeln, die gemäß unpersönlicher Gesetze interagieren, eine existentielle Unsicherheit, eine Entfremdung von der Welt und den Selbsten, deren Lebendigkeit und Beseeltheit wir intuitiv spüren.

Unsere Gesellschaft fußt auf dem Wettbewerb und der Angst, größtenteils weil diese in unser grundlegendes Verständnis vom Universum eingeschlossen sind. Um eine neue Psychologie und zusammen eine neue Gesellschaft zu formen, die nicht untermauert ist von Angst, bedarf es einer neuen Auffassung vom Selbst und vom Leben und damit von der Wissenschaft und vom Universum. Andere Gesellschaften, die immer schneller von der westlichen Kultur fortgeschwämmt werden, waren bemerkenswert frei von der allgegenwärtigen Angst, wie wir sie heute kennen. Es ist kein Zufall, dass ihre sozialen Systeme auf Kooperation beruhten und dass ihre Definition des Selbst nicht atomistisch wie unsere waren, sonder relativistisch: definiert in Beziehung zu einem größeren Ganzen, wie etwa der Familie, dem Dorf, dem Wald, der Natur.

Es ist ein Hauptanliegen des vorliegenden Buches, eine andere, sowohl auf wissenschaftlichen als auch psychologischen Schlussfolgerungen beruhende Auffassung vom Leben und vom Selbst zu gründen, aus der eine andere Art von Gesellschaft natürlich wachsen kann. Wenn unsere grundlegende Seinslehre und Selbst-Definition sich ändert, wird sich alles andere mit verändern. Wie wird das geschehen? Wohin wird es sich verändern? Um diese Fragen zu beantworten, werde ich im folgenden Kapitel zunächst erläutern, wie der Aufstieg der Trennung überhaupt begann und werde dabei noch weiter zurückgehen, als zum Beginn dessen, was wir gemeinhin als „Technologie“ bezeichnen. Den Zustand, von dem wir aufgebrochen sind, zu kennen, erleichtert uns die Vorstellung des Zustandes, den wir erreichen können. Die Dynamik der Trennung als historischen Prozess zu verstehen, hilft uns zu wissen, wie wir diesen Prozess erfüllen und in eine neue Phase menschlicher Entwicklung hineinwachsen.

21 Stephen Harrod Buhner, Sacred and Healing Herbal Beers. Siris Books, 1998.

22 Lee, Richard B. The Dobe !Kung. Holt, Rhinehart and Winston, New York, 1979. S. 50-55

23 Norberg-Hodge, Helena. Ancient Futures: Learning From Ladakh. Sierra Club Books, 1992.

24 Derrick Jensen, A Language Older Than Words, Context Books, 2000. S. 85-86.

25 Sahlins, Marshall, Stone Age Economics, Aldine-Atherton, 1972. S. 30-31.

26 Seine Befunde erscheinen in der klassischen Arbeit: Nutrition and Physical Degeneration. Price-Pottenger Foundation, 1970.

27 Lee, Richard B. The Dobe !Kung, Holt, Rhinehart and Winston, 1984. S. 81, S. 91.

28 Wrangham, Richard und Dale Peterson. Demonic Males: Apes and the Origins of Human Violence. New York: Mariner, 1996. S. 76.

29 Chagnon, Napoleon A. Life Histories, Blood Revenge, and Warfare in a Tribal Population”, Science, 26. Feb., 1988, Bd. 239, Nr. 4843, S. 985-988.

30 Thomas Melancon, Marriage and Reproduction among the Yanomamo Indians of Venezuela. Doktorarbeit, UMI, 1982, S 42. Zitiert in einem Brief an die Anthropology News, 1989 der Brasilianischen Anthropologischen Gesellschaft.

31 Gregory, Juno. Macho Anthropology”, Salon , 28. Sep., 2000.

32 Tierney, Patrick. „The Fierce Anthropologist“. The New Yorker, 6. Nov., 2000.

33 Power, Margaret. The Egalitarians: Human and Chimpanzee: An Anthropological View of Social Organization. Cambridge University Press 1991.

34 Ich bin passionierter Bienenbeobachter. Sehr oft versammeln sich 10-15 Bienen im Eingangsbereich des Stocks. Sie krabbeln herum, nehmen Fühlerkontakt auf und pflegen sich, doch einen bedeutenden Anteil der Zeit tun sie auch überhaupt nichts, außer vielleicht ihre Fühler zu bewegen oder aber in Stille zu sein. Sicherlich könnten sie auch dann noch Umweltdaten sammeln, doch scheint es sich nicht um ein durch Stress verursachtes Bemühen zu handeln. Wir brauchen nicht getrieben zu sein. Einzig durch einen Zustand des Seins können wir in der Welt leben.

35 Gusinde, Martin. The Yamana, Human Relations Area Files, 1961. S. 27, zitiert von Sahlins, S. 28.

36 Zitiert von Michael Shermer im Scientific American, Februar 2002, S. 35.

37 Im Sinne unteilbarer kleinster Einheiten, in gegenwärtigen Fall die subatomaren Partikel. Die neueste Version des Atoms wären die vibrierenden eindimensionalen Objekte der Stringtheorie.

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1998-2011 Charles Eisenstein