Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein

Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters

Du befindest dich hier: Start » Buch lesen » Volltext

Inhaltsverzeichnis:


Die biologischen Ursprünge des Selbst

Technologie ist sowohl eine Ursache als auch ein Resultat unserer Trennung von und unser Objektivierung der Natur. Sie distanziert uns von der Natur, wovon die heutigen künstlichen Umwelten und die Abhängigkeit von Apparaten und bearbeiteten Lebensmitteln Beispiele geben; auf der anderen Seite ist es genau unsere konzeptuelle Distanzierung von der Natur, die uns ermutigt, Technologie auf die Natur als Objekt von Manipulation und Kontrolle anzuwenden. Wie konnte diese Huhn-Ei-Situation entstehen? Was hat unsere Trennung von der Natur, von der Technologie ein Aspekt ist, erzeugt?

Jared Diamond hat sehr überzeugend von der enormen Kaskade der Veränderungen geschrieben, die der Übernahme der Landwirtschaft vor etwa zehntausend Jahren folgten: Schrift, Mathematik, Kalender, Arbeitsteilung, Krieg und Eroberung, Privatbesitz und seine Anhäufung, Geld, Plagen, Sklaverei, Hungersnöte und so weiter, die sie nach seinen Worten „zum größten Fehler in der Geschichte der Menschheit“ macht1. Er ist außerdem eine der vielen Autoritäten, die darauf hinweisen, dass die frühen Bauern „kleiner und weniger gut genährt waren, an schwereren Krankheiten litten und im Durchschnitt früher verstarben, als die Jäger und Sammler, die sie verdrängten2“. Darüber hinaus genossen sie auch kein leichteres Leben: wie schon erwähnt, hatten die Jäger und Sammler viel mehr Freizeit als die Bauern. Dies führt zu einer der verwirrendsten Fragen in der Paleoanthropologie: Wie konnte sich die Landwirtschaft überhaupt durchsetzen? War sie in der Tat ein „Fehler“, eine schlechte Wahl oder war ihr Siegeszug ein unvermeidlicher Prozess? Und wir können eben dieselbe Frage zur Technologie im Allgemeinen stellen: War der gesamte „Aufstieg der Menschheit“ als eine technologische Spezies im Kontext der Anthropologie und sogar der evolutionären Biologie vorbestimmt? Ist es fest eingebaut in das, was uns ausmacht? Oder ist Technologie ein Fehler der immer und immer wieder begangen wird, von ihren frühesten vorlandwirtschaftlichen Wurzeln zur Landwirtschaft, Industrie und der Informationstechnologie?

Landwirtschaft war natürlich nicht die erste Technologie; davor hatten wir Werkzeuge aus Stein und anderen Materialien, wir hatten Feuer und wir hatten Sprache. So etwas wie einen prätechnologischen Menschen gab es nie. In der Tat war der früheste Repräsentant der Gattung Homo, Homo habilis, dessen Fossile mit 2,4 Millionen Jahre datiert werden, schon ein Gestalter von Steinwerkzeugen; sein Nachfolger Homo erectus beherrschte das Feuer schon vor etwa 1,5 Millionen Jahren3. Unsere Hände haben sich von Anbeginn entwickelt, um Werkzeuge zu gebrauchen, unsere Kiefer haben sich entwickelt, um weichere, gegarte Nahrung zu kauen, unsere Körper haben die meisten Haare verloren, die zum Überleben ohne Kleidung nötig wären, unsere Gehirne haben sich entwickelt, um Sprache zu verwenden. Zwar ist es durchaus möglich, dass ein Mann oder eine Frau, die nackt in der Wildnis ausgesetzt würden, mit dem richtigen Training überleben könnten, aber er oder sie würde damit beginnen, Werkzeuge zu erschaffen und ein Feuer zu machen. Da diese Fähigkeiten zum Werkzeugbau gelehrt werden müssen und nicht genetisch vererbbar sind, passen sie sicherlich in jedermanns Definition von Technologie. Menschen sind in ihrer grundlegenden Natur technologische Tiere.

Solange wir die Technologie – im Unterschied zu genetisch bestimmten – als erlernte Fähigkeiten zur Manipulation der physikalischen Umwelt betrachten, sind die Menschen nicht einmal die einzigen Tiere, die Technologie verwenden. Die meisten Säugetiere und Vögel lernen Verhaltensweisen zum Überleben von ihren Eltern; einige benutzen sogar Werkzeuge. Schimpansen benutzen Stöcke nicht nur als Werkzeuge, sie wählen sie auch für unterschiedliche Zwecke aus und passen sie entsprechend an für das Klettern, den Ameisen- und Termitenfang, das Wurzelausgraben, die Honiggewinnung und als Hebel4. Der Schmutzgeier hält einen Stein im Schnabel als Werkzeug zum Knacken von Strausseneiern5. Ein Darwinfink benutzt Kaktusstacheln, um Insekten aus Ritzen hervorzulocken, und eine Art Krähe in Neukaledonien geht noch einen Schritt weiter, indem sie tatsächlich Werkzeuge herstellt – sie formen Blätter zu Schneiden6. Wenn ein Werkzeug als Erweiterung des Körpers zum Zwecke der Umweltmanipulation angesehen wird, dann könnten wir sogar die Kalkschalen der mikroskopischen Coccolithophoren als Werkzeug ansehen, hergestellt aus in der Umwelt vorgefundenem Kalk. Wo hört der Körper auf und wo fängt die Erweiterung des Körpers an? Hier finden wir wieder eine vielleicht beliebige oder verschwommene Unterscheidung zwischen Selbst und Nicht-Selbst vor. Unsere gewohnheitsmäßige Selbst-/Nicht-Selbst-Unterscheidung, eine Charakteristik unserer Weltsicht, die auf die Biologie projiziert wird, bricht unter näherer Betrachtung zusammen.

Die gleichen Überlegungen lassen sich auf die Kultur anwenden. Vögel und Säugetiere erlernen ihre Hauptverhaltensweisen von den Müttern, wenn nicht durch bewusste Imitation, dann durch das Spiel. Zumindest aber liefern die Mütter und manchmal auch die Väter die auslösenden Reize für die neurologische Entwicklung. Außergenetische Information wird also weiter gegeben – auch wenn die Fähigkeit, diese Informationen verarbeiten zu können „genetisch programmiert“ sein mag. Denn letzten Endes statten uns unsere eigenen Gene mit den physischen Strukturen aus, um Sprache grundsätzlich erlernen zu können. Die Kultur wie die Technologie setzte schon in der vormenschlichen Biologie ein.

Nur wenige würden die Schale eines Coccolitophoren als ein Beispiel für den Werkzeuggebrauch ansehen, und selbst der Werkzeuggebrauch bei Vögeln wird für gewöhnlich als „instinktiv“ abgetan. Genauso tun einige Autoritäten den Werkzeuggebrauch der wilden Schimpansen, der Bonobos und der Kapuzineraffen mit der Behauptung ab, dass sie ihre Werkzeuge eigentlich nicht „verstehen“, dass ihr Verhalten in gewissem Sinne automatisch sei, gelernt durch unüberlegte Nachahmung. Auch wenn ich die Funktionsweise meines Computers eigentlich nicht „verstehe“, will ich dieses Argument nicht widerlegen. Der springende Punkt ist, dass der erlernte Umgang mit außerleiblichen Objekten zum Zwecke der Manipulation oder Veränderung der Umwelt begann, lange bevor der Mensch auf der Erde wandelte. Wir können die Schuld an der Technologie nicht einer unglücklichen Entscheidung zuschieben. Was Homo sapiens bewirkt hat, ist lediglich eine Beschleunigung dessen, was schon für Milliarden von Jahren vor sich ging.

Einige Philosophen unterscheiden zwischen menschlicher und tierischer Technologie, indem sie die Beobachtung heranziehen, dass Menschen die einzigen Tiere sind, die Werkzeuge zur Herstellung anderer Werkzeuge verwenden. Liefert uns diese Unterscheidung einen erkenntnismäßig qualitativen Unterschied zwischen Mensch und Tier? Es erscheint ein wenig beliebig. Dennoch, diese Unterscheidung deutet auf eine wichtige Eigenschaft der Technologie: ihre kumulative Natur, die Tatsache, dass sie einmal begonnen natürlicherweise aus sich selbst hervorgeht und damit den Benutzer fortschreitend von ihren nackten Anfängen distanziert.

Tiertechnologie ist höchstens rudimentär, doch genauso verhält es sich mit dem Grad ihrer Individuation von der Natur, ihrem Bewusstsein vom Selbst als abgetrenntem Wesen. Nehmen wir einmal die Möglichkeit an, dass unsere Individuation, unsere Trennung von der Natur, nicht eine Entscheidung oder ein Fehler war, sondern eine Unausweichlichkeit, die ihren Anfang nahm, bevor wir Menschen wurden. Ihr Höhepunkt ist dann, die Individuation zum absoluten Äußeren zu treiben, wie es in der Newtonschen-Cartesianischen-Darwinschen Weltsicht geschah.

Da viele Tiere Werkzeuge verwenden oder gar herstellen, können wir erwarten, dass die mit der Technologie verbundene Trennung des Individuums von der Natur in gewissem Umfang auch auf die Tiere zutrifft. Und wenn Tiere, warum dann nicht Pflanzen? Pilze? Bakterien? Präzelluläres Leben (wenn es denn je existierte)? Wir schauen aus Gewohnheit auf primitive Menschen, als seien sie mit „der Natur in Harmonie“, wenn nicht gar „eins mit der Natur“; um so mehr sehen wir nicht menschliche Arten auf diese Weise. Sicherlich sind sie näher an einem solchen Zustand, als wir, doch selbst bei dem einfachsten Organismus gibt es Andeutungen der Trennung, Anzeichen dessen, was kommen musste. Ich möchte vorschlagen, dass das gegenwärtige Zeitalter der Trennung vor Äonen begann, vorgezeichnet in der Zukunft durch die grundlegende Dynamik der biologischen Evolution. Es entstand nicht aus einem Fehler, einem schiefen Akkord, den die eine oder andere Gruppe Hominiden in die große Symphonie der Natur eingeführt hat. Die Trennung ist eher eine unausweichliche Entwicklung eines kosmischen Prozesses.

Auf der grundlegendsten Ebene erschaffen alle lebenden Kreaturen eine Unterscheidung zwischen sich selbst und der äußeren Welt, indem sie ein konstantes internes Millieu unabhängig von chemischen und thermischen Gleichgewichten aufrecht erhalten. Alle modernen Definitionen des Lebens beruhen auf dem Konzept, das Homöostase genannt wird7. Weil die Homöostase ein örtlich umgrenzter Stillstand und eine Umkehr der Entropie mit sich bringt, erfordert sie eine Energiequelle, z.B. die Sonne, durch welche Entropie letztendlich an die Umwelt abgegeben wird. Per Definition erschafft das Leben also einen Dualismus, ein Innen und ein Außen, und darüber hinaus benötigt es ein unumkehrbares Nehmen aus der Umwelt. Spricht man mit Bezug auf die Thermodynamik, so existiert das Leben nur auf (entropische) Kosten der Umgebung8.

Demnach erfordert das Leben es nicht nur, sondern ist tatsächlich ein Trennen eines zeitweise selbst aufrecht erhaltenden Teils des Universums. Entgegen unserer fundamentalen kulturellen Annahmen allerdings ist diese Trennung weder permanent noch absolut, sondern erlaubt Abstufungen. Trennung baut in der Tat unerbittlich auf sich selbst auf und hat dies seit hunderten Millionen Jahren auf der Erde getan, zuerst durch eine biologische, dann durch eine technologische Phase hindurch.

Die Unterscheidung zwischen Selbst und Umwelt ist am geringsten ausgeprägt unter den frühesten Formen des Lebens, den Bakterien, die die Selbst-Andere-Unterscheidung mit ihrer fluiden Teilung genetischen Materials verwischen. Selbst höhere Tiere und Pflanzen verlassen sich aufeinander bei der gemeinsamen Kreation der internenen und externen Umwelten, die für ihre wechselseitige Existenz notwendig sind. Keine Pflanze und kein Tier ist ein vollkommen individuiertes, getrenntes und unterscheidbares Wesen. Wie wir in Kapitel VI sehen werden, gibt es keine klare, absolute Definition des Selbst oder des Organismus; unser Glaube an das Gegenteil ist lediglich eine Projektion unserer irrigen Sicht auf uns selbst. Dennoch bereitete die Evolution des Lebens vom Bakterium zu höheren Lebensformen den Boden für die radikale Beschleunigung der Individuation, die noch geschehen sollte.

Dies ist der Augenblick, an dem es nötig wird, einen überholten Mythos über bakterielle Reproduktion auszuräumen. Für lange Zeit wurde angenommen, dass die Evolution bei den Bakterien wegen des Ausbleibens einer Chromosomendurchmischung bei der asexuellen Fortpflanzung sehr langsam ablaufen müsse. Wie man aber herausfand, sind Bakterien genetisch tatsächlich viel promiskuitiver als andere Organismen, und nicht weniger, bis hin zu dem Punkt, wo das grundsätzliche Konzept der Spezies und des Individuums kaum mehr auf sie anwendbar ist. Bakterien tauschen regelmäßig genetisches Material auf unterschiedlichen Wegen aus: durch Bakteriophagen, durch die Ausschüttung von Plasmiden und anderen DNA-Fragmenten in die Umgebung zur Wiederaufnahme durch andere Bakterien und selbst durch Verbindung mit direktem Austausch genetischen Materials in einer Art asexuellem „Bakteriensex“9.

Der nächste große Schritt in der Entwicklung der Individuation kam mit der mit Kern versehenen Zelle und der sexuellen Reproduktion. Ein Zellkern isoliert das genetische Material von der Umwelt und erlaubt ein diskreteres und stärker abgegrenztes Selbst. Sex ersetzt die allgegenwärtige genetische Promiskuität der bakteriellen Welt durch einen streng vorgegebenen Bereich genetischer Vermischung. In dem Maße, in welchem die Gene den Organismus definieren – was stark überbetont ist – macht die Beschränkung der genetischen Durchmischung auf den Sexualakt den Organismus stärker abgegrenzt. Angesichts des oben beschriebenen fluiden genetischen Teilens prokaryotischer Bakterien, können wir die sexuelle Reproduktion nicht als Innovation ansehen, die die Organismen näher zusammenbringt, sondern als eine Beschränkung vormaliger Offenheit, eine schärfere Abgrenzung. Mit anderen Worten kanalisierte die sexuelle genetische Mischung den Austausch, der vorher ständig geschah, in eine abgetrennte Kategorie.

Man verzeihe mir meine Spekulation, nur halb im Ernst, dass das bakterielle Leben von nahezu fortwährender Glückseligkeit erfüllt ist, ähnlich einem ewigen Zustand sexueller Vereinigung mit dem Universum. Wenn wir Menschen uns der körperlichen Liebe hingeben, entdecken wir für wenige Augenblicke den Zustand wieder, der einstmals das Grundniveau der Existenz in einer Zeit größerer Vereinigung und geringerer Trennung war. Wenn wir uns körperlich lieben, lassen wir unsere Grenzen auf mehreren Ebenen fallen – deshalb ist auch der Ausdruck der Liebe als Entgrenzung vom anderen zulässig. Bakterien erhalten solche Grenzen mit viel geringerer Wachsamkeit aufrecht als mit Zellkernen versehene Organismen. Deshalb könnte man auch sagen, sie seien mehr in Liebe mit der Welt. Noch glückseliger wäre der Zustand, der keine irgendwie gearteten Grenzen zuließe, nicht einmal die homöostatischen Grenzen der bakteriellen Membran. Diesen Zustand nennt man kosmisches Bewusstsein, Einssein mit Gott oder universelle Liebe.

Können wir die Evolution, durch welche sich das Selbst vom Ganzen abtrennt und mit anderen Selbsten im Überlebenskampf konkurriert, als ein fortschreitendes Sich-Entfernen von diesem Zustand auffassen? In diesem Falle können wir sogar den radikalen „Zukunftsprimitivisten“ wie John Zerzan übertrumpfen: statt einer bloßen Rückkehr zu einem prätechnologischen Jäger und Sammler Bewusstsein des Einsseins mit der Natur, lasst uns auch die Evolution rückgängig machen – lasst uns die Tyrannei der Eukaryoten überwinden! Es war nicht die Landwirtschaft, mit der wir falsch lagen, noch mit der Schaffung referenzieller10 Sprachen, sondern mit der Entstehung des Zellkerns! Ich mache natürlich Witze, aber dennoch deute ich hier auch wieder die eingebaute Notwendigkeit und den möglichen kosmischen Zweck des uralten Aufstiegs der Trennung an.

Die Isolierung genetischen Materials im Zellkern vereinte schließlich die Überlebensinteressen des organischen Selbst mit denen der DNA. Nehmen wir einmal an, du und ich, wir wären Bakterien mit gemeinsamen Vorfahren. Da die Reproduktion asexuell geschieht, bei der eine exakte Kopie erstellt wird, ist aus der Perspektive der DNA mein Überleben nicht wichtiger als deines, und es gäbe kein evolutionäres Hindernis für Altruismus, zumindest innerhalb einer bestimmten Spezies. In der Tat wurde auch vorgeschlagen, jede bakterielle Gesamtspezies als ein einziges, weit verteiltes Individuum zu betrachten. Die Häufigkeit horizontalen Gentransfers zwischen verschiedenen Bakterien illustriert weiter die relative Unwichtigkeit des einzelnen Bakteriums im Sinne eines Individuums aus der Perspektive genetischer Replikation.

Vergleiche dies mit den sich sexuell fortpflanzenden Arten, in welchen jedes Individuum genetisch einzigartig ist. Weil du und ich – nicht länger als Bakterien – viele Gene haben, die wir nicht teilen und weil wir kein genetisches Material austauschen können, bringen unsere Gene uns dazu, uns in einer Weise zu verhalten, die unser persönliches Überleben und unsere Reproduktion auch auf Kosten anderer maximiert. Da ihre Reproduktion bis auf wenige Ausnahmen ausschließlich sexuell vonstatten geht, ziehen Tiere genetisch gesehen den größten Nutzen aus dieser Art des Egoismus. Und je differenzierter man von anderen Spezies ist, desto höher der Anreiz zum Egoismus. Die Trennung zwischen dem Individuum und dem Rest der eigenen Spezies und dem Rest der Natur hat eine immer bedeutendere genetische Basis, je weiter man dem Weg vom Ursprung aus folgt.

Ich möchte in aller Eile hinzufügen, dass die obige Analyse ein wenig irreführend ist, da sie auf einigen überholten wissenschaftlichen Prämissen beruht, die ich in diesem Buch entlarven möchte. Der Wettbewerb ist nämlich viel weniger bestimmend für Verhalten und Evolution als gemeinhin angenommen, und unsere Sicht von der Natur als „blutrünstig“ ist hauptsächlich eine Projektion unserer eigenen kulturellen Vorurteile. Wir finden vor, wonach wir suchen. Zweitens ist die Idee, dass Gene Verhalten „programmieren“ und als Blaupause der Physiognomie dienen ebenfalls falsch, ein Produkt unseres mechanistischen Weltbildes; es tauchen mehr und mehr Belege dafür auf, dass die Umwelt die DNA steuern oder sogar verändern kann, um Zwecken zu dienen, die das Individuum übersteigen. Drittens ist die genetische Integrität höherer Organismen nicht so absolut wie gemeinhin angenommen: Pflanzen, Pilze und selbst Tiere haben eine genetische Fluidität mit den Bakterien auf vorher unvermutete Arten und Weisen gemeinsam. Als viertes Anzeichen dafür, dass die angenommene genetische Integrität des biologischen Selbst hauptsächlich eine kulturelle Projektion ist, kann der Sprung vom kernlosen Bakterium zum Eukaryoten gewertet werden. Wie andere makroevolutionäre Sprünge, geschah er durch eine symbiotische Verschmelzung einfacher Organismen. Kooperation und nicht Wettbewerb ist die grundlegende Basis des Lebens und der primäre Motor der Evolution. In einem späteren Kapitel werde ich untersuchen, wie dieses neue Verständnis vom Leben auch Modell stehen kann für eine neue Phase menschlicher Zivilisation. Vorerst soll es genügen festzuhalten, dass die Individualität der modernen einzelligen Eukaryoten und der daraus abgeleiteten mehrzelligen höheren Pflanzen, Tiere und Pilze auf einer Zusammenführung einfacher Individuen beruht. Wie Alfred Ziegler es in seiner Archetypischen Medizin ausdrückt, ist das Leben eine Chimäre.

Die DNA mal beiseite gestellt sind wir natürlich alle durchlässig für die Umwelt, indem wir fortwährend Material mit der Welt austauschen. Wir sind halbpermanente Muster eines Stroms mit einer Existenz unabhängig von den spezifischen materiellen Substanzen, die uns ausmachen, so wie eine Ozeanwelle nur jeweils zeitweise aus einer bestimmten Kollektion von Wassermolekülen besteht. Die Moleküle selbst wogen lediglich einmal auf und ab, wenn die Welle auf dem Weg zu anderen Molekülen über sie hinweg geht. Da selbst die Materie des Universums in wechselndem Ausmaß und in einzigartiger Weise durch uns zirkuliert, teilen wir genauso diese Materie und bestimmen so miteinander in unseren Beziehungen wechselseitig unsere stets sich ändernden Muster des Stroms – man spricht hier auch von Flux. Weder die Materie noch ihre Muster konstituieren autonome, unabhängige Einheiten. Das Selbst hat nur eine bedingte Realität.

Ich werde die Details und die Bedeutung des Paradigmenwechsels in der Biologie in Kapitel VI untersuchen; der Hauptpunkt ist hier, dass in demselben Ausmaß, in welchem der genbasierte Wettbewerb das Verhalten des Organismus bestimmt, die Trennung des Selbst von der Umwelt eine evolutionäre und nicht bloß eine technologische Fundierung hat. Ob nun durch die genannten Frühformen der Werkzeuge oder nicht, lebende Kreaturen, vor allem Tiere, zeigen einen eingeborenen Dualismus durch ihre Manipulation der Umwelt zu selbstdienlichen Zwecken. Selbst wenn es zusammen ein vereintes Ganzes ergibt, verkörpert das Leben zumindest eine bedingte Trennung, ein Aufbrechen der Perspektive in Mein und Dein. Die Trennung begann lange bevor der Mensch auf Erden wandelte.

1 Diamond, Jared. „The Worst Mistake in the History of the Human Race.“ Discover Magazine, Mai 1987. S. 64-66. Es ist aber zu beachten, dass Diamonds spätere Schriften zu der Meinung neigen, dass die Landwirtschaft unvermeidlich war und nicht, wie das Wort „Fehler“ nahelegt, eine schlechte Wahl.

2 Diamond, Jared. Guns, Germs, and Steel. W.W. Norton & Co. New York, 1997. S. 105

3 McKee, Jeffrey K. The Riddled Chain: Chance, Coincidence, and Chaos in Human Evolution. Rutgers University Press, New Brunswick, 2000. S. 107. Man beachte aber, dass verschiede Autoritäten recht weit streuende Daten für die Zähmung des Feuers anbieten.

4 Kosseff, Lauren. „Primate Use of Tools.“ http://www.pigeon.psy.tufts.edu/psych26/primates.htm#monkeys

5 Goodall, Jane and H van Lawick. „Use of Tools by the Egyptian Vulture (Neophron porenoptemus).“ Nature. 212: 1468-1469. 1966.

6 Gee, Henry, 1999. „The Maker’s Mark.“ Nature Science Update,
http://www.nature.com/nsu/990506/990506-9.html.

7 Präzelluläres Leben mag eine Ausnahme von diesem homöostatischen Prinzip bilden, außer dass es keine Beweise dafür gibt, dass es je existiert hat. Die sogenannten „nackten“ replizierenden Ribozyme der protobiotischen Suppe existieren nur in der Theorie, und diese Theorie ist eher eine Projektion unserer kulturellen Annahmen vom Selbst, als eine plausible Erklärung der Biogenese – eine Behauptung, die ich in Kapitel VI ausführen werde.

8 Selbst diese Form der Trennung kann als Illusion angesehen werden, wenn wir von kombinatorischer statt von thermodynamischer Entropie sprechen. Dies berührt tiefe Fragen darüber, wie ein Universum mit anfangs niedriger Entropie überhaupt entstehen konnte. An irgendeinem Punkt hätte nutzbare Energie aus dem Nichts erschaffen werden müssen; entweder alles auf einmal in der Urknall-Kosmologie, oder permanent in der stationären Kosmologie. Mit anderen Worten lautet die tiefe Frage also: „Leben wir in einem Universum der Knappheit oder des Überflusses?“

9 Für eine erhellende Darstellung des lateralen Gentransfers sei verwiesen auf W.J. Powell, „Molecular Mechanisms of Antimicrobial Resistance“, Februar 2000.

10 Dieser Begriff der Sprachtheorie wird in späteren Abschnitten näher erläutert. Ein Zeichen ist darin dadurch definiert, dass es auf eine Vorstellung bezug nimmt, die sich wiederum auf einen Gegenstand oder Sachverhalt beziehen kann. Diesen Sprachbegriff finden wir schon bei Aristoteles [Anm. d. Übers.]

"Der Aufstieg der Menschheit" in anderen Sprachen:
Chinesisch . Englisch . Finnisch . Französisch . Ungarisch . Rumänisch . Russisch . Serbisch . Spanisch

1998-2011 Charles Eisenstein