Die Renaissance der Menschheit von Charles Eisenstein

Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters

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Der Turm zu Babel

Die biblische Geschichte vom Turmbau zu Babel liefert eine der zentralen Metaphern für das Buch. In dieser Geschichte versuchen die Menschen einen Turm zu errichten, der bis in den Himmel reichen sollte — ein bildhafter Vergleich für die Vorstellung, das Unendliche mit endlichen Mitteln erreichen zu wollen. Auf gleiche Weise versuchen die Menschen heute mit ihren (sozialen und physikalischen) Technologien eine perfekte Welt herzustellen, ein Utopia. Soziale Technologien (wie beispielsweise Rechtssysteme) und Energie-, Werkstoff- und biologische Technologien haben ein Bauwerk errichtet, das in der Tat hoch aufragt. Wir nennen es Zivilisation. Doch sind wir dadurch wirklich dem Himmel näher gekommen? Geht es uns heute besser als einem Jäger-Sammler, einem römischen Bauern, einem Amerikaner der 50er Jahre? Der Himmel scheint genau so weit entfernt zu sein wie eh und je, egal wie viele Probleme wir lösen.

Doch je höher wir bauen, desto mehr Probleme treten am Fundament unserer Konstruktion auf, als ob unsere Zivilisation unter ihrem eigenen Gewicht zusammenbrechen wollte. Schau dir Pieter Bruegels Bild genau an. Die unteren Abschnitte bekommen Risse und bröckeln, noch während der Turm aufgestockt wird. Gleichermaßen, noch während unsere Technologien neue Wunder erzeugen, mehren sich tiefgreifende Probleme, die so alt sind wie die Zivilisation. Wir entwickeln Mikrochips und Nanotechnologie; und doch kann ein großer und immer größerer Teil der Menschheit nicht einmal seine Grundbedürfnisse nach Nahrung, Gesundheit und Sicherheit stillen.

Ein Blick auf den Turm im Gemälde macht offensichtlich, dass das Projekt der Baumeister dem Untergang geweiht ist. Im Grunde ist es absurd. Je höher das Gebäude aufragt, desto stärker müssen sie sich gegen die Wirklichkeit abschirmen, um die Bemühungen fortsetzen zu können. Und doch müssen sie sie fortsetzen, denn ihre ganze Lebensweise dreht sich um dieses Bauwerk. Jared Diamond gibt eine ähnliche Antwort auf die Frage, weshalb die Bewohner der Osterinsel, selbst als ihr Schicksal eigentlich klar ersichtlich gewesen sein sollte, weiterhin ihr Ökosystem zerstörten, um riesige Monolithen aufzustellen: Ihr politisches, ökonomisches und soziales System hing von der Errichtung der Moais ab.
Und auch wir sind abhängig: von technologischem Fortschritt. Angesichts der von früheren Technologien erzeugten Probleme kennen wir keinen anderen Lösungsweg, als sie mit neuen Technologien zu bekämpfen, die ihrerseits unbeabsichtigte Folgen haben. In unserer Hilflosigkeit bauen wir den Turm immer höher.

Es gibt zwei mögliche Entwicklungen bei einem solchen Unternehmen. Die eine Möglichkeit wäre ein gewaltiger Kollaps, sobald die geschwächten Fundamente das Gewicht des Bauwerks nicht mehr zu tragen vermögen. Viele Denker sehen für unsere Zivilisation exakt dieses Finale vorher, weil ihr ökologisches Fundament zerfällt.
Die andere Möglichkeit bestünde darin, dass die Baumeister, genau wie in der biblischen Geschichte, ihr Zel aufgeben. Die Babylonier wachten eines Morgens auf und stellten fest, dass sie einander nicht mehr verstanden — eine Metapher für den Zusammenbruch der Verständigung, der Konsensfähgigkeit und der Gemeinschaft. Das große Zivilisationsprojekt besteht in Fragmentierung: Wissenschaftliche Überspezialisierung macht die verschiedenen Wissensfelder einander unverständlich; und nun bezweifeln wir die Möglichkeit und Notwendigkeit, noch höher zu bauen.

Stattdessen fühlen die Menschen überall auf der Welt einen starken Drang zurück zur Natur, zum Land; einfacher zu leben, freier, langsamer. Dieser Trend wirft ein Schlaglicht auf die Ironie des alles verschlingenden Versuchs eines Turmbaus bis in den Himmel, wo doch der Himmel bereits überall um uns herum ist! Eine vollkommene Welt ist schon jetzt erreichbar — und war es immer. Wir sind ihr nicht näher, als unsere Jäger-Sammler-Vorfahren, aber auch nicht ferner. Alles was es braucht ist ein Wahrnehmungswandel. Wir könnten dann noch immer Türme bauen, aber die Motivation dahinter wäre eine völlig andere. Welcher Bestimmung würden wir die Gaben der menschlichen Hand und des menschlichen Geistes — Technologie und Kultur — zuführen, wenn es uns nicht mehr nach oben treiben würde?

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1998-2011 Charles Eisenstein