Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein

Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters

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Inhaltsverzeichnis:


Mein persönliches Zeitalter der Vernunft

Der rationale, lineare Beweis ist, was der Verstand verlangt. Der Weg des Herzens beginnt, wenn man seinen Kopf auf den Bauch eines anderen legt und in die Antwort driftet.
— Coleman Barks

Was heißt es „wissenschaftlich“ zu sein? Was bedeutet dieses Wort im Zusammenhang mit dem alltäglichen Leben? Seit dem 17. Jahrhundert wurde der Verstandesmensch über alle anderen hinausgehoben, und der Vernunft wurde das höchste Ansehen unter allen Formen der Geistestätigkeit zugesprochen. Die Vernunft ist letztendlich die einzigartige Domäne der Menschheit, die uns von den Tieren trennt, die uns über unser biologisches Erbe von Instinkt und Emotion hinaushebt. Eine Vernunftkreatur zu sein, bedeutet also, höher entwickelt zu sein; es heißt, mehr ein Mann zu sein und weniger ein Tier.

Ich benutze hier mit bedacht das Wort „Mann“ für „Mensch“, denn die Vernunft wurde wegen eines kulturellen Vorurteils als unterscheidendes Merkmal des männlichen Geschlechts angesehen. Männer wurden für rationaler gehalten, Frauen für emotionaler und intuitiver. Frauen galten als näher an ihrer Biologie, mehr den periodischen Fluktuationen ihrer Hormone ausgesetzt. Mit unserer Erhöhung der Vernunft ist damit auch die Erhöhung des männlichen Geschlechts über das weibliche verbunden.

Vernunft ist eine mit dem Männlichen verbundene Charaktereigenschaft, nicht weil Männer darin fähiger wären, sondern weil sie sie großflächiger einsetzen. Allgemein gesprochen wenden die Männer unserer Kultur die Vernunft in mehr Situationen an, als die Frauen – auch und gerade in Situationen, in denen die Vernunft unangebracht ist. Wenn wir die Vernunft als Kennzeichen der Trennung ansehen, dann ist die männliche Vorliebe für die Vernunft Beleg für die extremere Trennung des männlichen Geschlechts. Frauen – und allgemeiner das Feminine, einschließlich des femininen Anteils beider Geschlechter – bieten uns Männern einen Weg, uns wieder mit der Biologie, der Emotion und der Intuition zu verbinden, von denen uns die Vernunft abgetrennt hat.

Wie der mythologische griechische Held Theseus irren wir in einem Labyrinth umher, einem Labyrinth der Rationalität und des Egos, in welchem ein Monster lauert, das uns verschlingen kann. Der Minotauros ist ein wildes Tier mit einem menschlichen Kopf5, das Gesicht der Vernunft über den Trieben der Biologie. Ihr opfern wir, so wie die Athener, die Besten und Klügsten unserer Jugend. Einmal innerhalb des Labyrinths ist der einzige Ausweg, der Lebenslinie zu folgen, die allein die Frau anbietet.

Ich bin intim vertraut mit dem Labyrinth der Rationalität, weil ich für viele Jahre darin lebte. Indem ich als erstes die Logik auf jede Situation anwendete, indem ich die Gefühle unterband und die Vernunft einsetzte, hielt ich mich selbst für kognitiv höher entwickelt, intelligenter als die meisten anderen Leute – eine höhere Menschenart, wissenschaftlicher, rationaler, mit einem Wort, besser. Ich agierte mit dem Intellekt, welcher höher war, anstatt mit den Emotionen, die niedriger standen. Indem ich die Vernunft auf mein eigenes Leben anwendete, ließ ich die Ideale der Philosophen der Aufklärung wiederhallen, die dachten, dass ein neues Zeitalter der Vernunft eine perfekte Gesellschaft einläuten würde. Die Vernunft hielt man für ein allmächtiges Werkzeug, das alle Probleme der Welt lösen würde.

Du kannst dir wahrscheinlich einige der Schwierigkeiten vorstellen, die mich ereilten, als ich mein persönliches Zeitalter der Vernunft verfolgte. Indem ich meine Gefühle dämpfte, konnte ich nur noch Entscheidungen treffen, wenn ich eine Liste von Gründen – die Pros und Kontras – miteinander verglich. Ich habe angestrengt versucht, die Dinge zu ergründen, doch wie auch immer, meinen Entscheidungen fehlte die Überzeugung, die Herzensentscheidungen zueigen ist. Zweifel plagten mich, und ich war unfähig, irgendeiner Entscheidung mit ganzem Herzen zu folgen. Ich war wie gelähmt durch Unschlüssigkeit vor und durch Zweifel nach jeder Entscheidung, die ich traf. Um dieser Betäubung entgegenzuwirken, habe ich enorme, ausgefeilte Gebäude aus Gründen und Rechtfertigungen erschaffen, um meine Entscheidungen zu unterstützen, aber wie sehr ich es auch versuchte, so fühlte ich mich doch hoffnungslos verloren.

Sehr viel später verstand ich, alle meine Gründe waren in Wahrheit Rationalisierungen für Entscheidungen, die bereits getroffen waren, nicht-rational und auf der Basis von etwas Unbewusstem, Ungefühltem. Die verborgenen Ursachen meiner Entscheidungen ans Licht zu bringen, wurde zum dringenden Hauptanliegen. Wenn nicht aus bestimmten „Gründen“, warum tue ich denn sonst die Dinge, die ich tue?

Beachte die Parallelen zwischen dem geschilderten und unserem kollektiven Zeitalter der Vernunft! Sind wir trotz all unserer cleveren Ausarbeitungen nicht auch verloren in einem Meer ohnmächtiger Analysen und Erklärungen, vorwärtstreibend ins Unheil durch Kräfte deren wir nur dunkel gewahr sind? Wiederholt sich unsere kollektive Geschichte nicht selbst, so wie ich hilflos wieder und wieder dieselben Muster in meinem Leben geschaffen habe? Schauen wir nicht immer noch auf die durch die Wissenschaft verkörperte Vernunft als Rettung, so wie ich wiederholt versucht habe, eine Lösung für meine Probleme zu finden?

Ob nun auf einer persönlichen oder planetarischen Ebene, es herrscht die gleiche Einbildung: dass, wenn wir es nur stark genug versuchen, werden wir alles lösen und fortan glücklich und zufrieden leben.

Wann habe ich schließlich meine persönliche Version des Wissenschaftlichen Programms aufgegeben? Erst als eine Serie von Krisen das Gewebe meines Lebens auf eine Weise zerriss, die es vollkommen klar machte, dass das Programm der Kontrolle dem Untergang geweiht ist. Schau dir die Welt um uns herum an! Gibt es irgendeinen Zweifel daran, dass wir uns kollektiv einem ebensolchen Moment nähern?

Ich will hier nicht der Abschaffung der Vernunft das Wort reden. So wie die Wissenschaftliche Methode, so hat auch die Vernunft ihren gebührenden Platz. Eingesetzt in ihren angemessenen Sphären sind beide Werkzeuge für die Erschaffung von Wundern. Das Problem ergibt sich, wenn sie ihre angemessenen Grenzen überschreiten und die gesamte Wirklichkeit unter ihre Herrschaft zu bringen suchen, wie sie es in meinem eigenen Leben getan haben. Die Folgen dieses Geschehens sind ausufernder Schaden und die Erschöpfung der sozialen und physischen Umwelt. Im persönlichen Beispiel werden andere Menschen verletzt. Im kollektiven Beispiel sind es ganze Kulturen, Ökosysteme und der Planet selbst. Irgendwann schließt sich der Kreis, da die Selbst-Anderer-Unterscheidung im tiefsten Innern unstimmig ist, und der Schaden und die Erschöpfung hat unweigerliche Auswirkungen auf das Selbst. Diese Konsequenzen zu handhaben, zu reparieren und zu kontrollieren, kann nur vorübergehend funktionieren und dies zu einem ausufernden Preis, denn es ist tatsächlich die Denkungsart der Trennung hinter diesen Reaktionen, die den Schaden überhaupt erst angerichtet haben.

Der anthroposophische Arzt Tom Cowan bietet für diesen Prozess eine interessante Metapher an, indem er sich auf die mittelalterliche, alchemistische Tradition bezieht6. Die Alchemisten verstanden die Menschen als aus drei Teilen bestehend: Kopf, Brustbereich samt Herz und Lunge und die Eingeweide. Der Kopf, symbolisiert durch Silber, ist kühl, statisch und reflektiv; das Herz, symbolisiert durch Gold, ist warm und rhythmisch; die Eingeweide, symbolisiert durch Schwefel, sind heiß und transformativ. In dieser Philosophie hat die Instanz des Wissens ihren Sitz nicht im Kopf, sondern im Herzen. Das Herz ist für das Wissen und der Kopf für die Reflexion. Die Folgen des Einmarsches der Kopffunktion in den Rest des Körpers erklärt Cowan folgendermaßen: ihre Starre manifestiert sich in Knochenverwachsungen und Sklerosen, Steinen in den Organen, Plaques im Herzen und den Arterien und Tumoren im gesamten Körper.

Ist es reiner Zufall, dass die technologischen Artefakte des Zeitalters der Vernunft ebenso vornehmlich hart sind? Gehsteige, Gebäude, Metall und Plastik sind allesamt geschaffen, den Rhythmen und transformativen Prozessen der Natur zu widerstehen. Schauen wir aus einem Flugzeug nach unten, sehen die wachsenden Vorstädte aus, wie metastasierende Tumore, die aus den städtischen Schaltstellen herausstrahlen - die Weichheit der Erde verwandelt in Härte.

In der persönlichen Geschichte, die ich erzählt habe, und in der gesamten Kultur der Wissenschaft hat der Kopf die Herzensfunktion als Organ des Wissens übernommen. Wie erahnen dies, wenn wir die alchemistische Kopfqualität der Kühlheit mit der Ausübung der Vernunft verbinden – „kühl und rational“ sagen wir, oder „kühlen Kopfes“. Der Kopf ist dafür gedacht zu reflektieren, zu überlegen, zu explorieren, aber es ist das Herz, dass dafür gedacht ist, zu wissen und deshalb auch zu wählen.

Die Idee der nicht vernunftgetriebenen Auswahl läuft einem fundamentalen Prinzip der klassischen Physik zuwider: dem Determinismus. Eine Masse im Newtonschen System hat keine Wahl; ihre Bewegung ist in alle Zukunft vollkommen vorbestimmt durch die Kräfte, die auf sie wirken. Wenn wir uns genauso sehen, kommen die Versprechen der Kontrolle mit einem enormen Preis – einem entsprechendem Gefühl der Hilflosigkeit. Wir sind, so wie die Newtonsche Masse, vollkommen vorbestimmt durch die Gesamtheit der Kräfte, die auf uns wirken.

Das Universum der klassischen Wissenschaft ist ein Universum der Kräfteeinwirkungen. Zwar gaben die Errungenschaften der Wissenschaftlichen Revolution diesem Prinzip eine explizite Form, aber es geht tatsächlich viel weiter zurück, zurück zu den Ursprüngen der Trennung. Es reicht zurück zum altertümlichen Bauern, der Kraft aufwendete, um das Land davon abzuhalten, in seinen wilden Zustand zurückzugleiten; es reicht zurück zu den Steinbau-Gesellschaften, die mittels menschlicher Anstrengung natürliche Formen durch menschliche Kreationen ersetzten. Die Eroberung der Natur und der menschlichen Natur erfordern wie alle militärischen Unterehmungen Gewalt. Die Geschichte der Technologie ist eine Geschichte der Menschheit, die sich mehr und mehr Energien verschafft, angefangen mit menschlicher Kraft, Tierantrieb, Wasser- und Windkraft, über Kohle, Mineralöl und Gas zur Nuklearenergie. Und da Energie in der Physik nichts anderes ist, als Kraft integriert über eine Distanz, kommt der Aufstieg der Menschheit einer Ausübung von mehr und mehr Kraft gleich. Es ist die Bändigung der Kräfte unter menschliche Kontrolle. Die Erfüllung des Menschenschicksals wäre dann die Zähmung aller Naturkräfte, um sie dem menschlichen Bereich vollständig einzuverleiben.

Die Kräfte der Physik sind das Gegenstück zur Vernunft in unserem Leben. Genauso wie wir versuchen, Geschehen zu verstehen, indem wir uns die Gründe ihrer Entstehung anschauen, so verstehen wir auch das Verhalten eines physikalischen Systems, indem wir alle Kräfte einbeziehen, die auf es wirken. Mein persönliches Zeitalter der Vernunft hatte alle Kennzeichen der klassischen, wissenschaftlichen Weltanschauung. Getränkt mit der Ideologie der Wissenschaft erscheint uns jede andere Annäherung an das Wissen als unvernünftig oder sinnlos.

Es ist in der Tat ironisch, dass mein eigener Versuch, ein wissenschaftliches, vernunftgeleitetes Leben zu führen, motiviert durch die Sehnsucht nach Kontrolle und Sicherheit, stattdessen Krisen und Unsicherheit gebracht hat. Dasselbe ist auf globaler Ebene geschehen. Die Wissenschaftliche Methode lässt sich in letzter Konsequenz auch kurz zusammenfassen als „Lass“ es uns prüfen, um sicher zu gehen!“ Und doch werden wir immer unsicherer, gelähmt von eben dem Zweifel, den ich in meinem eigenen Leben erfahren habe. Das Durcheinander widerstreitender Stimmen in meinem Kopf spiegelt die erbitterten, konfligierenden Interessen der modernen Politik und anderer Institutionen, die einem bedeutungsvollen Übergang im Wege stehen. Sie hinterlassen uns hilflos, wir taumeln vorwärts, geschoben durch die Trägheit des Vergangenen, gebeutelt durch Kräfte jenseits unserer Kontrolle.

5 Moderne Abbildungen des Minotauros zeigen durchweg einen Stierkopf auf einem menschlichen Körper, aber in klassischen Bildern finden wir es oft umgekehrt.

6 Cowan, Tom, The Fourfold Approach to Cancer”, 13. Nov., 2005 Präsentation auf der Wise Traditions Konference, Chantilly, VA.

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1998-2011 Charles Eisenstein