Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein

Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters

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Inhaltsverzeichnis:


Ja und Nein

Ökonomie, Darwinsche Biologie und die dualistische Religion stimmen alle darin überein, dass die einzige Hoffnung auf eine lebenswerte Welt in größerer Anstrengung besteht, nett zu einander sein. Solch eine Betrachtungsweise sieht Zivilisation als ein fundamentales Gut, denn sie überlagert die tierischen Neigungen der Natur durch antrainierte Verhaltensweisen, welche gegen die Natur arbeiten – gegen die Wirklichkeit von Gewinnen-um-jeden-Preis und Fressen-oder-gefressen-werden. Weil das Neugeborene vollständig natürlich ist, vollständig unkultiviert, zielen Bildung und Erziehung auf die Zerstörung, oder wenigstens Unterdrückung, der ursprünglichen Natur des Kindes ab, um zivilisierte Sitten, Werte und Verhaltensweisen zu begünstigen. Daher die enorme Betonung auf Gehorsam und Disziplin.

Die Alternative dazu, „sich mehr zu bemühen“, ist das Spiel, welches spontan, improvisiert und locker ist (Spiel beginnt erst, wenn wir gelöst sind). Wenn wir nur versuchen zu spielen, dann spielen wir in Wahrheit nicht. Furcht und Angst, Zwang und Nötigung, Gehorsam und Disziplin sind spielfeindlich. Viele kindlichen Aktivitäten wie z.B. Gymnastikstunden und Zwergenliga, die man heutzutage Spiel nennt, ist tatsächlich eher die „Entwicklung von Fähigkeiten“ oder Gehorsamstraining. Traurig aber wahr, unsere Gesellschaft unterbindet das Spiel schon in einem wesentlich früheren Stadium.

Bis es zu krabbeln beginnt, ist die spielerische Freiheit eines Babys nur durch seine körperlichen Fähigkeiten eingeschränkt. Es spielt ständig, erforscht verschiedene Möglichkeiten, seinen Körper zu bewegen und Töne zu erzeugen. Wenige Eltern versuchen ein Kind jünger als acht Monate zu beschränken und zu belehren, und es gibt wenig Grund für die Benutzung des Wortes Nein. Aber wenn es beweglicher wird, kann das Baby oder Kleinkind (wie alle Eltern wissen) in Schwierigkeiten geraten: eine Sauerei veranstalten, Mithilfe verweigern und sogar sich selbst gefährden. Mal möchte es alle Töpfe und Pfannen herausziehen und eine halbe Stunde darauf herumschlagen. Mal möchte es nicht in seinen Kindersitz hocken. Mal ist es jetzt nicht hungrig und würde sein Essen lieber auf den Fußboden werfen. Oder mal möchte es rückwärts auf die Rutsche klettern. Was, wenn ein anderes Kind es auf dem Weg nach unten trifft? Es könnte fallen und sich verletzen.

Solche Situationen rufen jenes bezeichnende Wort früher Kindheit hervor — „Nein“. Es bezieht seine Kraft von der Gewalt (körperlich oder verbal), die es begleitet, oder ihrer stillschweigenden Androhung. In jedem Fall fühlen wir die Notwendigkeit, Kontrolle auszuüben. Wir können das Kind nicht weiter auf den Töpfen und Pfannen herumschlagen lassen, wegen des fürchterlichen Lärms und des Durcheinanders und weil es einfach so... unordentlich ist. Es muss jetzt in seinen Kindersitz hinein, denn wir müssen um zehn Uhr irgendwo sein, und es ist unsicher und gesetzeswidrig, ohne „Kinder-Einzwängungs-Apparat“ zu fahren (wie ich es gern nenne - „Matthew, rein in deinen Kinder-Einzwängungs-Apparat!“). Das Essen auf dem Boden ist solch eine Sauerei; außerdem ist jetzt Essenszeit, nicht später, und wir haben noch was anderes zu tun. Eingetaucht in das moderne Leben sind wir von der Gnade seiner Terminpläne abhängig; wir sind beschäftigt. Was die Spielplatzrutsche angeht, nun, wenn wir es rational betrachten, ist sie vielleicht nicht so gefährlich, aber wir müssen es schließlich lehren, die Regeln zu beachten.

Auf einer Ebene versuchen wir die Eigenständigkeit und Kreativität unserer Kinder aus den selben Gründen einzugrenzen, wie wir unsere eingrenzen: diese Eigenschaften sind weder praktisch noch realistisch oder sicher. Subtil oder weniger subtil versuchen wir sie in die Richtung praktischen Denkens, guten Benehmens und guter Sitten zu steuern. Heute sind grobe Methoden, wie die unverblümte Ausnutzung der Angst vor körperlichem Schmerz aus der Mode geraten. Stattdessen manipulieren wir unsere Kinder gezielt durch Lob und Tadel. Wir fädeln es so ein, dass sie sich gut mit dem fühlen, was wir gutheißen und schuldig oder beschämt, wenn sie etwas tun, was wir missbilligen. Manchmal genügt schon der Tonfall der Stimme oder ein geschickter Vergleich mit einem Geschwisterteil oder einem Freund.

Das Programm der Kontrolle ist beides, subtil und allgegenwärtig. Es läuft fast immer unbewusst ab. Wenn du ein Elternteil bist, hör dir selbst beim Sprechen mit den Kindern zu. Nimm wahr, wann du durch Wort oder Tonfall Untertitel wie „Du bist schlecht“ oder „Du bist (ausnahmsweise) gut“ setzt. Wenn du Eltern hast, achte darauf in eurer Kommunikation. Und schließlich, egal wer du bist, halte Ausschau danach in deiner Kommunikation mit dir selbst. Ich habe entdeckt, dass es meinen inneren Dialog durchdringt. Ich bin gut aus diesem Grund, ich bin schlecht aus jenem. Ich kann X nicht tun, weil das böse von mir wäre. Ich muss Y tun oder ich wäre nicht gut. Du wirst nicht notwendigerweise die Wörter „schlecht“ oder „gut“ benutzen; stattdessen könnten es ersatzweise faul, weich, selbstsüchtig, gierig oder falsch bzw. cool, nett, verdienstvoll, würdig oder richtig sein. Von solchen Wörtern ausgelöste unterschwellige Gefühle der Schuld, Selbstzurückweisung, des Bedürfnisses nach Anerkennung, Furcht und Scham führen uns wie Schafhirten durch das Leben unter Kontrolle.

Die Raffinesse dieses Programms wird offensichtlich, wenn wir erkennen, dass viele der kindlichen Verhaltensweisen, die wir unter Kontrolle zu bekommen versuchen, tatsächlich nicht so gefährlich sind. Die Rechtfertigung „Wir müssen ihm beibringen die Regeln zu beachten“ führt uns zur Wurzel der Angelegenheit. Vor allen unmittelbaren Belangen von Sicherheit und Zweckmäßigkeit steht das „Prinzip“ des Gehorsams gegenüber den Eltern. Es muss sich der Disziplin unterordnen – zunächst äußerlich, dann verinnerlicht als Erwachsener. Kontrolle ist in der Tat ein Ziel, das wichtiger ist als Sicherheit, praktisches Denken und Moral, die es rechtfertigen. Denk an die beiden Kardinalsünden der Kindheit: Ungehorsam und Lüge. Mehr als jede andere Übertretung stören die typischen Eltern Ungehorsam und Lüge. Sie erregen irrationale und oft unerträgliche Enttäuschung, Hilflosigkeit und Wut, weil sie offenbaren, dass das Kind außer Kontrolle ist; sie kommen einer tätlichen Erklärung der Autonomie des Kindes gleich. Als solche provozieren sie natürlich härteste Bestrafung.

Ich erinnere mich, dass mein Sohn Jimi vor Jahren einmal mit seinem Dreirad in unserer Straße herumfuhr, als ein Wagen aus einer Zufahrt herauszog. „Jimi,“ rief ich, „ein Wagen will rausfahren. Geh an den Straßenrand.“ Als er nicht reagierte, schrie ich wieder, diesmal lauter: „Jimi, geh aus dem Weg, da kommt ein Auto!“ Noch immer reagierte er nicht. Zum Glück hat der Fahrer ihn gesehen und ist um ihn herum aus der Straße hinausgefahren (er war tatsächlich nicht in großer Gefahr), aber damals habe ich völlig die Beherrschung verloren. Ich ging zu ihm hin und schrie ihm ins Gesicht, dass er stets zu tun habe, was sein Vater sage, denn was wäre geschehen, wenn der Wagen ihn nicht gesehen hätte? Jimi fing natürlich zu weinen an, und es dauerte eine ganze Weile, ehe ich ihn – mich selbst schwer schuldig fühlend – trösten konnte.

Nach Jahren des Nachdenkens über diesen und ähnliche Vorfälle ging mir schließlich auf, dass die Gefahr durch das Auto lediglich eine Ausflucht war. Der wahre Grund für meinen Ausraster war, dass ich mich bedroht fühlte. Ich wolle ihn einschüchtern, damit er sich unterwirft. Ich war zornig, dass er nicht gehorchte, und ich wollte ihn so verängstigen, dass er mir das nächste Mal folgt. Ich war beschämt, weil die Nachbarn wahrscheinlich meine laxe Aufsicht seiner Aktivitäten missbilligten. Ich fühlte mich als schlechter Erzieher. Jimis Ungehorsam löste ein tiefes Unwohlsein aus, das tatsächlich wenig mit irgendeiner wirklichen Gefahr zu tun hatte.

Ich habe seither gelernt, dass man Vertrauen und Gehorsam eines Kindes viel effektiver gewinnt, indem man vor es hinkniet, seine Hände nimmt, ihm auf gleicher Höhe in die Augen sieht und ihm in ruhigen, aber festen Worten aufrichtig mitteilt, warum es wichtig ist, auf seinen Vater zu hören. Es ist so viel effektiver, im Vertrauen darauf, dass es ein Kind natürlicherweise nach Führung und Schutz durch die Eltern verlangt, zu diesem Verlangen zu sprechen. Es ist nicht nötig, seinen Geist zu unterwerfen. Es ist nicht nötig, die menschliche Natur zu bekämpfen. Kannst du das glauben? Kannst du glauben, dass mir meine Kinder fast immer folgen, obwohl ich sie nie bedrohe oder bestrafe? Wir brauchen nicht in einer Newtonschen Welt zu leben, in der nur Kraft den Lauf der Dinge ändern kann.

Und kannst du verstehen, dass meine Kinder selten einen Grund haben, mich zu belügen? Sie müssen mir nicht ausweichen. Denk an dein eigenes Heranwachsen. Hast du deine Eltern regelmäßig getäuscht, um frei zu sein und Strafe zu vermeiden? Hattest du ein Geheimleben? Wie lange (wenn überhaupt) hat es gedauert, Intimität und Vertrauen wiederherzustellen? Die Entfremdung von unseren Kindern ist nur ein weiteres Beispiel dafür, wie Kontrolle uns von der Welt isoliert.

Die geläufige Redewendung „Du sollst/musst...“ ist eine vielsagende Erscheinungsform der Beherrschung des kindlichen Geistes. Ich hörte eine Mutter, nachdem ihre sechs Jahre alte Tochter zwei oder drei Aufforderungen zum Hereinkommen ignoriert hatte, zu einem ärgerlichen, nachdrücklich drohenden Tonfall wechseln: „Maggie, du MUSST jetzt sofort reingehen!“ Wie George Orwell bemerkte, ist es nicht genug, die Handlungen einer Person zu beherrschen; ihre Gedanken und Gefühle müssen ebenso unter Kontrolle sein. Ich verurteile die Mutter nicht, denn sie ist nur ein Kanal, über den sich das Klima unserer Kultur ausdrückt. Aber welch eine Tyrannei, jemandem vorzuschreiben, was er muss. Jeder Eheberater wird dir sagen, dass es respektlos und unproduktiv ist, jemandem zu sagen, wie er sich fühlen sollte, aber wir machen das mit Kindern die ganze Zeit, durch Lob und Tadel, Belohnung, Drohung und Scham.

Die subtilen Arten der Kontrolle, die ich beschrieben habe, scheinen freundlicher zu sein als die Prügel und Schläge früherer Jahre, aber im Grunde sind sie kein bisschen anders. Sie sind lediglich andere Mittel für den Zugang zu den größten Ängsten eines Kindes. Weit mehr als Schmerz fürchtet ein Kind (oder jedes junge Säugetier) die Zurückweisung oder das Verlassenwerden durch die Eltern. Darum küssen Kinder willentlich die Hand, die sie schlägt, oder bitten sogar um Bestrafung. Missachtung ist aus dieser Perspektive dasselbe wie Schläge. Beide beschwören die Urangst des Verlassenwerdens herauf. In der Tat ist ein gelegentlicher Klapps auf den Po wahrscheinlich weniger schädlich, als eine ausgedehnte Kontrollkampagne, die das Kind spüren lässt, dass es niemals gut genug sein wird, um voll akzeptiert zu werden. Niemals gut genug. Wenn Anerkennung von Leistung abhängt, dann kann kein Perfektionsgrad je genügen, dem Kind die Nervosität zu nehmen. Das gilt gleichermaßen, wenn es älter wird und elterliche Anerkennung als Selbstbestätigung verinnerlicht. Bedingte Anerkennung bedeutet nie endende Probezeit. Dein natürliches Selbst ist schlecht, darum musst du dich sehr bemühen, gut zu sein. Doch keine noch so große Bemühung kann einen Turm in den Himmel bauen. Egal welche Höhen wir erreichen, wir bleiben unendlich hinter dem Ziel zurück.

Der menschliche Geist ist so stark, dass nur eine lebensbedrohliche Situation ihn unterwerfen kann. Die Urangst des Verlassenwerdens ist hilfreich beim Brechen des kindlichen Geistes. Das „Training“ bzw. die kulturelle Anpassung von Kindern zapft die Überlebensangst auf der tiefsten Ebene an. Erinnere dich an meine Studenten, die sagen: „Meine Eltern würden mich umbringen.“ Das ist ein Schlüsselausdruck für die Angst, verlassen zu werden.

Überlebensangst motiviert auch die Eltern. Wir rationalisieren das Brechen des kindlichen Geistes, indem wir sagen, es wäre „zu seinem eigenen Besten“, entweder bezüglich körperlicher Sicherheit oder um einen sicheren Platz in der Gesellschaft zu ergattern. Was würde jedoch geschehen, wenn wir ein Kind so aufzögen, dass es tut was es möchte anstatt was es soll? Ein Kind, das stets das Spiel vor die Arbeit stellt? Ein Kind, das nie seine Würde gefährdete? So ein Kind könnte nicht die üblichen Rollen annehmen, welche die Gesellschaft anbietet, würde sich niemals den demütigenden Routinen der Schule oder der routinemäßigen Erniedrigung des Lebens innerhalb Maschine unterordnen. Derrick Jensen hat es so ausgedrückt:

„Ich bin seither zu dem Verständnis gelangt, warum die Schulzeit dreizehn Jahre dauert. Es braucht so lang, den kindlichen Willen genügend zu brechen. Es ist nicht einfach, den Willen von Kindern zu brechen, sie für die schmerzbereitenden Beschäftigungen, die sie zu erdulden haben werden, von ihren eigenen Erfahrungen der Welt abzutrennen. Weniger Zeit würde nicht reichen, und tatsächlich gehen die, die besonders langsam sind, aufs College. Für die übermäßig Hartnäckigen ist die Hochschule da.19

Die Tyrannei ist weit subtiler als sie Jensen beschreibt, denn eigentlich sind es nicht jene Kinder mit besonders starkem Willen, die auf ein College oder eine Hochschule gehen können, um sich noch ein bisschen mehr den Willen brechen zu lassen. Im Gegenteil. College und Hochschule sind eine Art Belohnung, welche nur jenen zusteht, die durch gute Noten demonstriert haben, dass ihr Wille ausreichend gebrochen ist, um sie für Eliteposten in der Gesellschaft zu qualifizieren. Sicherlich gibt es ein paar wenige Glückliche, die einfach Schularbeiten lieben, aber für die meisten ist Schule eine lästige Pflicht, eine Disziplin, in der wir unsere Bereitschaft demonstrieren zu tun, was man uns sagt. Jene, die sich nicht zur völligen Befolgung der Anweisungen überwinden können, deren Aufmerksamkeit umherwandert, die in der Klasse herumalbern, die lieber draußen spielen, als Hausaufgaben zu machen und deren Abneigung einen Geist befeuert, der stark genug ist, um den institutionellen, kulturellen und elterlichen Mechanismen zur Erzeugung von Gehorsam zu widerstehen, werden keine guten Schulnoten erhalten. Stattdessen werden ihnen Etiketten wie dumm, faul, schlecht oder, in Steigerung davon, medizinische Varianten wie ADS (Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom), ADHS (Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndrom), oder mein Lieblingsausdruck: OTS (Oppositionelle Trotzverhaltens-Störung) angeheftet. Damit können wir, wenn verhüllte Drohungen, Scheinanreize und andere Formen schulischer Manipulation versagt haben, auf pharmazeutische Kontrollmethoden zurückgreifen, um das aufsässige Kind in die Schranken zu weisen.

Die Gesellschaft wird fast alles nötige tun, um das Kind dazu zu zwingen, ein „nein“ als Antwort zu akzeptieren. Das ist ein enormes Vorhaben, denn es ist dem kreativen Entdeckergeist des Menschen ein Gräuel. Darum hören wir Kleinkinder das Wort wieder und wieder vor sich hinsagen beim Versuch, sich damit auseinandersetzen und seine lebensverneinende Kraft mit dem eigenen kreativen Potential zu versöhnen. Versuch einmal folgendes: Gehe auf einen von diesen kleinen Kinderspielplätzen, wo sich viele junge Mütter mit ihrem Nachwuchs aufhalten. Schließ deine Augen und lausche. Ein Wort wird herausstechen wie ein wunder Daumen; immer wieder wirst du es hören, ausgesprochen in drohendem Tonfall. „Nein Jeremy!“ „Nein Ashley!“ „Nein Courtney!“ Nein, nein, nein. Stell dir die Wirkung auf ein kleines Kind vor: Die Eltern sind in seinen Augen Götter, ungeheuer allmächtige Gestalten, beinahe deckungsgleich mit dem Universum, besonders für Krabbler. Die Götter sagen uns „Nein“, gefahrverheißend und mit Distanzierung drohend. Das Universum ist nicht freundlich. Wir sind nicht frei.

Da er in jungen Jahren verinnerlicht wurde, hallt der fortgesetzte „Nein“-Refrain durch unsere gesamte Kindheit und Jugend nach, bis er heimlich, still und leise, wenn wir schließlich erwachsen geworden sind, unsere grundlegenden Überzeugungen durchzieht. Im Ergebnis bezweifeln wir die Gültigkeit unserer eigenen Kreativität; wir sehen dauernd über die Schulter und fragen uns, ob es ok ist, fragen uns, ob es akzeptabel ist, sich auf Neuland vorzuwagen. Und schließlich gewöhnen wir uns an diesen Daseinszustand, haben uns eingerichtet in einer Welt, in der alles entweder ausdrücklich erlaubt oder ausdrücklich verboten ist, wo es keine Unsicherheiten gibt, keine Mehrdeutigkeit, kein offenes Territorium. Unser gesamtes Leben wurde, anders ausgedrückt, durch dieses unschuldig scheinende vierbuchstabige Wort festgelegt. Das, so stelle ich mir vor, war die Einsicht, welche der radikalen ’60er-Aussage zugrunde lag: „Das Establishment sagt nein, die Yippies sagen ja!“20 Ja zu was? Die Erklärung benötigt keine Erläuterung, weil sie intuitiv verständlich ist, ein universelles Ja, welches kein Objekt benötigt.

Als scheinbare Wiedergutmachung dafür, dass man uns vom größten Teil des Lebens durch das Wort „nein“ abschneidet, bietet uns die Gesellschaft umgrenzte, belanglose und letzten Endes höchst künstliche Spielfelder für Fluchten und Luxus, wo wir eine enge Auswahl trivialer Freiheiten genießen dürfen. Das Modell hierfür ist der Laufstall: ein hoch umzäuntes Abteil der Welt, in dem jede Variable unter Kontrolle ist, wo wir weder Lampen umreißen, noch den Boden beschmutzen oder amok laufen können und wo es absolut sicher ist. Die Fülle und Unbekümmertheit des wirklichen Lebens spielt sich in sicheren, kontrollierten Fragmenten des Daseins ab: im Urlaub, in Bars, auf Partys, in Freizeitparks, auf Tour, mit Warenhauskatalogen, Kanalsurfen, im Internet und dem grenzenlosen Universum der Markenwaren. Dies sind die Laufställe der Erwachsenen.

Innerhalb dieser Laufställe versucht unsere Gesellschaft nun das gesamte Leben einzufangen. Hier finden wir das Gegenstück zum „Nein“: ein bedingtes, begrenztes Ja, das sich durch unsere Ängste und die Verbote der Gesellschaft definiert.

Weiter oben habe ich geschrieben, dass die Welt des Spiels immerhin während der ersten acht Monate unberührt bleibe. Doch soeben blicke ich auf einen Artikel über die neuesten Trends beim „Baby-Training“, wo „die Klasse Musik und Requisiten benutzt, um die Babys bei der Sache zu halten und um das Folgen mit den Augen und die Augenstellung zu verbessern.“21 In den Händen eines guten Lehrers könnte so eine Klasse völlig spielerisch sein, doch das Konzept an sich offenbart den allgemeinen Wandel physischer Bewegung – ursprünglich eine der größten Freuden des Lebendigseins – hin zum Bereich der Arbeit: Gymnastik oder Training, etwas, das wir für die Fitness zu tun haben, um Gewicht und Form unserer Körper zu kontrollieren. Hier begegnet uns erneut die Ausdehnung des geplanten, angeleiteten, programmierten Lebens auf bisher unberührtes Territorium. „Das Ende des Spiels“, wie Joseph Chilton Pearce es sorgenvoll ausdrückt, kommt heutzutage in einem sehr frühen Alter. Das muss es. Der Geist muss früh gebrochen werden, damit er sich einer Welt unter Kontrolle unterwirft.

19 Jensen, S. 102

20 Ich erinnere mich, dies einmal in einem Manifest der 60er Jahre gelesen zu haben, aber ich finde die Quelle nicht mehr.

21 Gelineau, Kristin, ”Baby Workouts Touted to Ward off ObesitySSalon Magazine, 13. Juni 2004.

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1998-2011 Charles Eisenstein