Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein

Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters

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Inhaltsverzeichnis:


Ordnung ohne Plan

Gewisse Theologien und Wissenschaftler haben die erstaunliche Tatsache betont, dass die physikalischen Konstanten des Universums präzise kalibriert zu sein scheinen, so dass die Existenz des Lebens ermöglicht wird. Der Wert der starken Kernkraft, die Feinstrukturkonstante, die Gravitationskonstante, die Elektronenmasse usw. würden, wären sie auch nur um ein paar Prozent verschieden, kein Leben mehr ermöglichen, in manchen Fällen wären sogar Sterne und feste Materie unmöglich.10 Manche nennen dies einen Beweis für einen Schöpfer, der den Weg für das Leben geebnet hat; andere sprechen von einer Vielzahl von Universen, deren jedes verschiedene Konstanten besitzt. Für mich ist das Faszinierendste die Möglichkeit, dass die Konstanten eigentlich miteinander interagieren und Rückkopplungsmechanismen unterliegen, welche sie schließlich in die stabile Attraktor-Stellung brachte, die sie heute einnehmen. Wie auch immer, das Schwangergehen des Universums mit Ordnung, Schönheit und Leben kommt nicht nur von diesem Satz (möglicherweise beliebiger) physikalischer Konstanten. Ordnung und Schönheit sind mit der Natur der Wirklichkeit sogar noch tiefer verwoben. Sie tauchen auf jeder Ebene auf – in jedem nicht-linearen System von ausreichender Komplexität. Wir werden uns ein paar dieser Systeme auf verschiedenen Ebenen ansehen, um einen Sinn für die Allgegenwart der Ordnung zu bekommen – Ordnung ohne Design, im fortdauernden Wunder, in dem wir leben.

Die metaphorischen und praktischen Implikationen der Selbstorganisation sind erschütternd, vielleicht sogar noch mehr als jene der Quantenmechanik. Ich wurde vor 16 Jahren, frisch aus dem College, zum ersten Mal auf die Selbstorganisation aufmerksam, als mir ein Freund „Dialog mit der Natur“ von Ilya Prigogine und Isabelle Stengers überreichte. Dieses Buch hat mich sehr beeindruckt. Unter zahlreichen Beispielen für Selbstorganisation in chemischen Systemen gewährte es mir einen ersten Blick auf die Mandelbrot-Menge, ein außergewöhnlich kompliziertes Fraktal, das von einer extrem einfachen rekursiven Formel generiert wird. Um es zu generieren, nimm einen Punkt c in der Gaußschen Zahlenebene und wende folgende rekursive Vorschrift an:

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Nach einer gegebenen Zahl von Schritten wird die Sequenz z0,z1,...,zn entweder den absoluten Wert 2 überschreiten und danach schnell gegen Unendlich gehen, oder sie wird in enger Nachbarschaft zum Ursprung bleiben. Wenn c eine Sequenz generiert, die im Rahmen bleibt und nicht gegen Unendlich divergiert, dann gehört sie zur Mandelbrot-Menge. Unglücklicherweise gibt es keine allgemeine, endliche Methode um herauszufinden, ob eine Zahl c dazugehört, denn selbst nach einer Milliarde Schritten könnte sie immer noch beim eine-Milliarde-und-zehnten Schritt anfangen zu divergieren. Mathematisch ausgedrückt ist die Menge nicht rekursiv zählbar und daher auch nicht entscheidbar.11 Und das bedeutet, dass es keine Verbindung, keinen Grund gibt, weshalb die Menge die Struktur hat, die sie eben hat; keinen Grund außer: „So ist es eben“. Der einzige Grund, den man (allgemein) angeben kann, weshalb ein Punkt in der Menge enthalten ist, ist einfach das Zitat der Definition: „Nach N Schritten ist sie noch immer nicht divergiert.“ Unsere gesamte reduktionistische Beschreibung der Menge M sagt nichts über sie aus. Im Endeffekt haben wir hier eine Wirklichkeit, die nicht reduzierbar ist.

Man könnte dasselbe über jede Zufallsmenge von Punkten sagen12, aber was die Mandelbrot-Menge zu etwas Besonderem und einer fruchtbaren Metaphernquelle macht, ist die Tatsache, dass es sich dabei nicht um irgendeine unordentliche Verteilung von Punkten auf der Ebene handelt, sondern dass sie Ordnung, Struktur und sogar Schönheit zu besitzen scheint. Trotzdem ist eine vollständige, abschließende Beschreibung unmöglich; jede solche Beschreibung lässt unendliche Teile der Struktur aus. (Beachte die Parallele zur unausweichlichen Reduzierung der Wirklichkeit, welche begriffliche Sprache und Maße, wie schon in Kapitel II beschrieben, so mit sich bringen.)


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Abbildung 6.1: Die Mandelbrot-Menge. Die schwarzen Bereiche sind Teil der Menge; die Farben verblassen ins Blaue je nachdem wie schnell die Punkte divergieren.



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Abbildung 6.2: Verschiedene Teile der Mandelbrot-Menge in der Vergrößerung. Manchmal findet man beim hineinzoomen um mehrere Millionen Größenordnungen verzerrte Repliken der Gesamtmenge.


Die Menge M mit ihrem spontanen Auftauchen von Struktur ist nicht einzigartig – dasselbe wurde in anderen mathematischen Systemen wie den zellulären Automaten, neuronalen Netzwerken, Simulationen von Gruppenverhalten und Booleschen Netzwerken gefunden. Stuart Kauffman nennt es „Ordnung gratis“, weil sie aus den Bestimmungsgleichungen nicht offensichtlich hervorgeht. Als er Boole’sche Netzwerke untersuchte, konnte Kauffman sogar allgemeine Parameterwerte finden, die praktisch sicherstellen, dass sich Ordnung ergibt (obwohl der einzige Weg herauszufinden, wie diese Ordnung aussieht, darin besteht, alles durchzurechnen).13

Lass mich ein weiteres Beispiel geben. Der zelluläre Automat namens „Langtons Ameise“ könnte simpler nicht sein. Stell dir eine Ameise vor, die über ein Rastergitter krabbelt, auf dem jedes Feld entweder schwarz oder weiß ist. Wenn die Ameise auf einem schwarzen Feld ankommt, wird dieses weiß und sie wendet sich darauf nach rechts. Wenn sie auf einem weißen Feld ankommt, wird dieses schwarz, und sie wendet sich darauf nach links. Die Ameise wandert ziellos umher und schafft dabei Muster über Muster, bis schließlich an einem bestimmten Punkt (abhängig vom den Eingangsvoraussetzungen) etwas sehr seltsames passiert: Die Ameise fängt an, eine Straße in die Unendlichkeit hinaus zu bauen.14 Zahlreiche Simulationen bestätigen, dass dies unabhängig von den Eingangsvoraussetzungen geschieht, aber das ist nur eine empirische Tatsache. Es ist wahrscheinlich unmöglich, es analytisch zu beweisen.15 Anders ausgedrückt ist die einzige Erklärung dafür, „warum die Ameise jedesmal eine Straße baut“: „Weil es für Einstellung A, Einstellung B, Einstellung C,... wahr ist“, was in Wirklichkeit überhaupt keine Erklärung ist. Solch eine Erklärung läuft auf „Weil sie es tut“ hinaus. Wie bei der Menge M haben wir die vollständige reduktionistische Erklärung für jede Bewegung der Ameise, aber das sagt uns nichts über die großräumige Struktur.


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Abbildung 6.3: Langtons Ameise in zwei verschiedenen Startbedingungen. Je regelmäßiger das Startmuster, desto schneller entsteht Straßenbauverhalten. [Abb. ist Anm. d. Übers.].


Mit anderen Worten deutet nichts in den simplen Definitionsgleichungen von Langtons Ameise darauf hin, dass Straßenbauverhalten entstehen wird. Es gibt keine endliche Erklärung, und trotzdem geschieht es. Es gibt kein einfacheres „wieso“. Es ist eben so. Deshalb können wir auch nicht sicher sein, dass Straßenbau immer vorkommt. Wir könnten es für eine Milliarde Starteinstellungen zeigen, aber es könnte für die eine-milliarde-und-erste versagen. Analoge Situationen sind in der Welt der zellulären Automaten und verwandten Feldern allgegenwärtig, was Forscher wie Stephen Wolfram dazu verleitet, eine „neue Art Wissenschaft“ zu fordern, die auf empirischer Entdeckung statt analytischem Beweis beruht. Da es in der Wissenschaft um das Verstehen der Welt geht, ist ihre Forderung wirklich eine Neukonzeption des Verstehens, das nicht mehr der Gewissheit unterliegt. Es wird nötig zu akzeptieren, dass komplexe Systeme emergente Eigenschaften besitzen, für die wir niemals ein reduktionistisches „warum“ finden werden.

Nicht nur Gewissheit, auch Vorhersagbarkeit und Kontrolle bleiben auf der Strecke. Wir müssen akzeptieren, dass uns, egal wie präzise wir unsere Eingangsbedingungen kontrollieren, die Ergebnisse überraschen könnten. Bei Langtons Ameise wissen wir, dass Straßenbau daraus entsteht, aber nicht wann und wo. Wenn man auch nur ein Feld im Ursprungsgitter ändert, kann dies das „Wann und Wo“ völlig umgestalten. In der Chaostheorie ist das als „Empfindlichkeit gegenüber kleinen Abweichungen in den Anfangsbedingungen“ bekannt, die nicht nur mathematische Systeme plagt, sondern auch physikalische, chemische und biologische – alles was Nicht-Linearität und Rückkopplung hat. Wir könnten empirisch allgemeine Informationen ableiten, analog zum Straßenbau der Ameise, aber die Einzelheiten werden sich uns entziehen. Zum Beispiel könnten wir uns die meteorologischen Daten der Erde ansehen und vorhersagen, dass in der Karibik Hurrikane auftreten werden, aber wir sind bei der Vorhersage ihres Zeitpunkts oder Pfads hilflos. Trotz gewaltiger Verbesserung der Datendichte ist die Wettervorhersage jenseits einiger Tage noch immer ungenau. Exponentielle Anstiege der Datendichte bringen bestenfalls lineare Verbesserungen des Vorhersagezeitraums.

Diese Beispiele zeigen, dass Determinismus und praktische Vorhersagbarkeit tatsächlich zwei verschiedene Dinge sind. Ideale Newtonsche Zwei-Körper-Mechanik besitzt beides: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind in einer einzigen Gleichung enthalten und die Entwicklung eines Systems ist für jeden Zeitpunkt leicht auszurechnen. Aber mit wenigen Ausnahmen gilt das nur für lineare Systeme. Ein freies Pendel ist unendlich vorhersagbar; ein angetriebenes Pendel (bei dem ein Motor die Achse vor und zurück treibt) ist chaotisch. In einem linearen System resultieren Messunsicherheiten lediglich in linearer Abweichung bei den vorhergesagten Ergebnissen – das „Rauschen“ bleibt im Vergleich zum „Signal“ bewältigbar klein. Aber in nicht-linearen Systemen überwältigt das Rauschen schnell das Signal. Eine winzige Differenz der Eingangsbedingungen resultiert in völlig verschiedenem Verhalten.

Das Wort „Design“ impliziert bewusste Erkenntnis der in die Eingangsbedingungen eingebauten Endergebnisse. Der Ingenieur wünscht ein bestimmtes Ergebnis und baut es darum in sein Design ein. Design impliziert eine Art Vorhersagbarkeit, Eigenschaften des Ganzen, die aus den Eigenschaften der Teile vorhersagbar sind. Wenn die Leute von „intelligentem Design“ als kosmologischer Theorie sprechen, ist dies genau, an was sie denken: ein externer Schöpfergott, der die Urspungsbedingungen und Gesetze des Universums exakt so eingestellt hat, dass intelligentes Leben dabei herauskommen würde. Ich schlage eine andere Vorstellung von Gott vor, nicht als Schöpfer, sondern als schöpferische Kraft selbst, nicht außerhalb des Universums, sondern eine untrennbare Eigenschaft des Universums. Warum sollte die Menge M so übermäßig schön sein? Es verlangt uns nach einem „warum“, aber da ist keins. Kein Grund außer „So ist es eben“. Die Wirklichkeit ist genau so. In der Mandelbrot-Menge sehe ich Gott, ein wundersames Geheimnis, das ich niemals voll begreifen kann; nicht wegen der Begrenztheit meines Verstandes, sondern weil es gesetzmäßig unbegreifbar ist, undurchdringlich für Reduzierung. Es gibt dort nichts zu „verstehen“, nichts zu begreifen. Es ist eben so. Es ist, weil es ist. Es ist das ewige „Ich bin“. So wie zwei und zwei vier ergibt, könnte auch M nicht anders sein. Ordnung gratis. Schönheit gratis. Nicht so gestaltet und trotzdem eine unreduzierbare Eigenschaft der Wirklichkeit. Ich wollte schon „eingebaut“ sagen, aber sogar das schmuggelt eine dualistische Reduzierung dieses selbstgenügsamen Wunders hinein.

Es ist in der Tat ironisch, dass uns die Mathematik, die mit Hilfe ihrer „Zahlen“ die Natur manipulieren, zähmen und neu ordnen wollte, zu der unbestreitbaren Erkenntnis zurückgebracht hat, dass die Wirklichkeit auf iher grundlegendsten Ebene für immer außerhalb unserer Reichweite liegt. Und weil das keine Kuriosität abstrakter rechnerischer Mathematik, sondern allgemein für jedes nicht-lineare System wahr ist, kann das Technologische Programm der vollständigen Kontrolle niemals in Erfüllung gehen. Immer wieder hat die Erfahrung uns gezeigt, dass die Endergebnisse in einem nicht-linearen System unabhängig von der Präzision unserer Messung und Kontrolle unvorhersagbar sind. Die vermeintlichen Erfolge des technologischen Aufstiegs sind der Linearität der Maschinentechnik zu verdanken. In linearen Systemen funktioniert es: Je präziser die Kontrolle der Eingangsbedingungen desto präziser sind die Endergebnisse vorhersagbar. Unsere Zivilisation hat die lineare Technik bis an ihr Maximum entwickelt. Je komplexer eine Maschine wird, desto (exponentiell) mehr Beziehungen zwischen ihren Teilen müssen berücksichtigt werden, um sie „unter Kontrolle“ zu halten. Die Kontrolle verlangt einen steigenden Preis, einen Preis, der nach menschlichen Begriffen nichts weniger als die Unterwerfung des Lebens selbst unter ihre Anforderungen verlangt. Die in Kapitel IV beschriebene exponentielle Umwandlung aller Dinge in Geld ist nur ein Aspekt davon. Unsere heutige Art der Technologie funktioniert nur, wenn ihre Ziele einfach, linear gehalten werden; wenn Variablen kontrolliert oder eliminiert werden. Wir können die Wirklichkeit nur durch ihre Reduzierung kontrollieren; komplexe Ökosysteme auf bewirtschaftete Forste, Monokulturfarmen, Vorortrasen zu reduzieren; komplexe Chemie in Kräutern und Nahrung auf nur ein paar „aktive Inhaltsstoffe“ und Vitamine zu reduzieren; die Komplexität menschlicher Sozialbeziehungen auf die Regelmäßigkeit geplanter Gesellschaften zu reduzieren.

Die moderne technologische Gesellschaft ist ein Beispiel für ein System, das Ordnung ohne Design besitzt (und sogar Andeutungen von Schönheit). Es ist eine grausame Tatsache, dass alle Versuche des Menschen, die Gesellschaft von oben nach unten zu gestalten, anstatt sie organisch wachsen zu lassen, kläglich gescheitert sind. (Beachte den gegenwärtigen Kontrast zwischen Nordkorea und Kuba, die beide erhebliche Isolation vom Rest der Welt erfahren. Ersteres – eine zentralisierte Kommandowirtschaft – befindet sich in großen Schwierigkeiten, während Letzteres, obwohl arm, dank der Flexibilität aufgrund eines hohen Grades lokaler Autonomie dort mit hinreichend Lebensqualität über die Runden kommt.)16 Komplexität und Maßstab der technologischen Gesellschaft widersetzen sich menschlichen Gestaltungsversuchen. Jede neue technologische Erfindung, jedes neue Gesetz oder jede soziale Neuerung hat Auswirkungen, die auf unvorhersagbare Weise durch das System schwappen.

In einem nicht-linearen System wie einer Gesellschaft oder einer Ökologie sind die Auswirkungen jedes technologischen Eingriffs völlig unvorhersagbar. Führe eine neue Spezies zur Kontrolle eines Befalls ein, und das Ergebnis könnte das Auftauchen eines noch schlimmeren Befalls sein. Erhöhe die Serotoninwerte mit einem Wiederaufnahmehemmer und das Endergebniss könnte die Reduzierung der Serotonin- und anderer Neurotransmitter-Rezeptoren sein, was zu noch schlimmeren Depressionen als zuvor führen könnte. Baue eine neue Straße um Stauungen zu reduzieren, und neue Entwicklungen werden wohl darin enden, die Staus noch schlimmer zu machen. Holze alle langsam wachsenden Bäume ab und ersetze sie mit schnell wachsendem Bauholz, und Krankheiten werden durch dieses geschwächte Ökosystem fegen, was schließlich weniger statt mehr Bauholz erbringen wird. Führ zur Reduzierung der Strapazen von Büroarbeit Computer ein, und die Leute werden am Ende mehr Zeit an ihrem Tisch verbringen als je zuvor. Füge Stickstoffdünger zur Erhöhung der Bodenfruchtbarkeit hinzu, und die daraus resultierenden Veränderungen in der Bodenökologie führen schließlich zur Reduzierung der Fruchtbarkeit. All diese unvorhersagbaren und sogar gegenläufigen Resultate erwachsen aus der Nicht-Linearität. Wir können uns vormachen, die Welt sei linear und unserer Täuschung bis zu einem gewissen Grad Geltung verschaffen, aber nur zu steigenden Kosten an Freiheit und Leben, denn außerhalb eines sehr engen Rahmens ist die Welt in Wirklichkeit nicht linear. Unsere Zivilisation baut auf diesem winzigen Segment auf, das tatsächlich linear ist oder das vernünftigerweise so betrachtet werden kann. Diese Täuschung bröckelt heute. Der Preis ist untragbar geworden. Und obwohl er untragbar geworden ist, kann es sein, dass wir ihn weiterhin tragen werden, solange wir nichts von irgendeiner Alternative wissen. Wir werden weiterhin dem Versagen von Kontrolle mit noch mehr Kontrolle begegnen und dabei die Plünderung der Erde, des Lebens, der Schönheit und der Gesundheit intensivieren, bis alles vollständig verbraucht ist. Darum ist es so wichtig, sich eines anderen Weges bewusst zu sein, ähnlich den wissenschaftlichen Entwicklungen, die ich in diesem Kapitel beschreibe.

Wir sind geneigt, die unbeabsichtigten Folgen der Technik als Ergebnis mangelnder Voraussicht zu sehen und zu hoffen, dass bessere Sozialkonstrukte das Problem lösen werden. Tatsächlich aber ist das Problem unlösbar. Das heißt, es ist unlösbar durch ier Sorte Lösung, die wir „Design“ nennen. Da wir unfähig sind, andere Arten von Lösungen wahrzunehmen, bemühen wir uns um so verzweifelter, bis wir der Verzweiflung erliegen. Welche anderen Lösungsarten, die nicht deplant sind, könnte es geben? Was ist mit jenen, denen man erlaubt zu wachsen? Die Technologie, die Ausfluss jenes Denkmusters wäre, könnte so verschieden von dem sein, was wir heute haben, dass sie nicht wiederzuerkennen wäre.

Eines baldigen Tages, wenn wir die Zwecklosigkeit von Kontrolle aufgrund der Nicht-Linearität des Universums voll verstanden haben, werden wir anfangen, einen vollständig anderen Technologieansatz zu wählen, einen, der nicht die Reduzierung der Natur betreibt, sondern eher deren Vollzug. Das ist nicht lediglich eine Entscheidung über die „Angemessenheit“ dieser oder jener Technologie; es ist die Anerkenntnis, dass wir unfähig zur Bestimmung ihrer letzlichen Folgen sind. Technologische Entwicklung wird aus einer Einstellung der Bescheidenheit erwachsen.

Das Technologische Programm vollständiger Kontrolle folgt aus dem Wissenschaftlichen Programm vollständigen Verstehens im Newtonschen Sinne von Reduktionismus und Vorhersagbarkeit. Eine neue Technologie, bei der es nicht um Kontrolle geht, bedarf deshalb einer neuen Art des Verstehens. Etwas verstanden zu haben, muss nicht heißen, sein Maß genommen zu haben, seine inneren Abläufe zu kennen, es analytisch zu reduzieren. Wir haben nun die Grenzen dieser Art des Verstehens in der Physik und der Mathematik gesehen. Die nächsten beiden Abschnitte werden identische Grenzen in Biologie und Ökologie aufdecken. Manche Dinge, möglicherweise die meisten Dinge, können nur als Ganzes und durch ihre Interaktion mit dem Rest der Welt verstanden werden. Solches Verstehen gelingt, so könnte man sagen, durch Beziehung und Erfahrung oder sogar durch Intimität. Wir können nicht mehr erwarten, dass die Wissenschaft uns zu „Herren und Besitzern der Natur“ macht; stattdessen könnten wir ihren Zweck darin sehen, uns in eine intimere Beziehung mit der Natur zu bringen. Der Geist der Entdeckung, der Neugier und des Sich-Wunderns, der die tiefste Motivation der Wissenschaft ist, wird erhalten bleiben.

Ohne Gewissheit wird Logik ihre Vorrangstellung als Königsweg zur Wahrheit verlieren und ihren rechtmäßigen Platz als eine von mehreren Arten des Wissens, jede passend zu ihrem eigenen Bereich, wieder einnehmen. Betrachten wir noch einmal das alchemische Modell aus Kapitel III, dann ist es die Funktion des Kopfes zu reflektieren, die des Herzens zu wissen und die der Eingeweide zu verändern. Der erste ist kühl, das zweite warm, das dritte heiß. Der Kopf – kühle Logik, kalte harte Wissenschaft – hat seine Aufgabe; das Problem heute ist, dass er die Funktionen der anderen an sich gerissen hat. Wir haben eine Zivilisation errichtet, in der wir uns auf die Vernunft, die Wissenschaft, die Spezialisten aller Gattungen bei der Leitung unserer Gesellschaft und unserer Zukunftsgestaltung verlassen. Wir haben ihnen eine Aufgabe gegeben, für die sie gesetzmäßig nicht geeignet sind. Analyse und Logik können nicht wissen. Sie können erkunden, auseinandernehmen, reflektieren, aber es ist nicht an ihnen zu wissen oder zu wählen. Sie können all die in Kapitel III gelisteten Qualitäten nicht wahrnehmen – Geist, Schönheit, Leben, Bewusstsein, Bedeutung, Sinn, Liebe – die, „wenn man sie auseinandernimmt, nicht da sind“. Im Ergebnis bleiben sie der „kalten, harten“ Wissenschaft fern, die sich, folgt man Galileos Anleitung, nur mit dem Messbaren beschäftigt – das, was auf Zahlen reduziert werden kann. Eine andere Sichtweise wäre, dass Wissenschaft und Vernunft blind sind. Ohne die Führung durch das Herz sind ihre Methoden gleichermaßen des Guten und Bösen fähig. Erinnere dich, dass der Holocaust entsprechend einer schrecklichen Logik mit höchster rationaler Effizienz durchgeführt worden ist. Passend zur besonderen Wahl der obersten Prinzipien war die ganze Sache vollständig vernünftig. Gleichermaßen führen die enormen wissenschaftlichen und ingenieurstechnischen Bemühungen heute zur Fabrikation von Rüstung, schädlichen Chemikalien, wertlosen Konsumgütern und all den anderen Instrumenten planetarischer Plünderung und kultureller Verarmung – wiederum alles in Übereinstimmung mit unerbittlicher ökonomischer Logik.

Vernunft kann Wahrheit nicht einschätzen. Vernunft kann Schönheit nicht wahrnehmen. Vernunft weiß nichts von Liebe. Nach dem Kopf zu leben, führt uns sowohl als Individuen wie auch als Gesellschaft an denselben Ort. Es führt uns in eine vielfache Krise. Der Kopf versucht diese mit mehr von denselben Kontrollmethoden zu bewältigen, und die Krisen verschärfen sich schließlich. Schließlich werden sie unbewältigbar und die Kontroll-Illusion wird durchschaubar; der Kopf gibt auf, und das Herz kann wieder übernehmen. Wir sind nun ziemlich dicht an diesem Punkt.

Vernunft kann nichts über Schönheit, Wahrheit und Liebe wissen, kann ihnen aber zu Diensten gestellt werden. Reduktionistische Techniken können nicht die emergenten Phänomene von Ganzheiten erfassen, können aber Werkzeuge zu deren Untersuchung sein. Kannst du dir eine Wissenschaft vorstellen, die der Entdeckung der Rolle und Funktion des Menschen in jenem ungeheuren kosmischen Ganzen, von dem wir ein Teil sind, gewidmet ist? Kannst du dir eine Technologie vorstellen, die der Erfüllung dieser Rolle gewidmet ist? Vielleicht ist dies das Schicksal der Menschheit: nicht Herrschaft über den Kosmos oder das bedeutungslose Leben und Sterben in einem gleichgültigen, zweckfreien Universum, sondern bewusste Teilnahme an einem kosmischen Evolutionsprozess, dessen Größe wir uns gerade vorzustellen beginnen.

10 Ein detaillierter technischer Überblick dieser Konstanten wird im Klassiker The Anthropic Cosmological Principle von Frank Tippler and John Barrow angeboten. Ihre Erklärung, die eigentlich eine Gegenerklärung ist, besagt, dass diese Konstanten so sein müssen, weil wir andernfalls nicht hier wären, um sie zu erkunden. Die meisten Menschen finden ihre Logik fehlerfrei und doch zutiefst unbefriedigend. Warum liest du dieses Buch? Nun, offensichtlich musste alles in deinem Leben so sein, dass es dich hierher führte, andernfalls würdest du es nicht lesen.

11 Ich habe neulich erfahren, dass diese Aussage nicht bewiesen ist. Wenn die Hyperbolizitätsvermutung für die Menge M wahr ist, ist die Menge in gewissem Sinne berechenbar. Dennoch bleibt diese Vermutung trotz enormer Beweisanstrengungen unbeweisbar. Streng genommen gilt rekursive Aufzählbarkeit nur für zählbare Mengen, doch alles was ich über die Menge M sage, gilt auch für ihre Überschneidung mit der Gaußschen Zahlenebene.

12 Mit Zufall meine ich an dieser Stelle nicht rekursiv abzählbar. Philosophen könnten an der Gleichsetzung von Zufälligkeit und nicht-rekursiver Abzählbarkeit herumkritteln, daher lass mich nebenbei zur Kenntnis geben, dass diese im Grunde äquivalent zur Zufallsdefinition ist, wie sie in der algorithmischen Informationstheorie (AIT) benutzt wird. In der AIT ist eine Zahlenmenge dann zufällig, wenn es kein Rechenprogramm zur Generierung der Menge gibt, das kürzer als die Menge selbst ist.

13 Stuart Kauffman: Der Öltropfen im Wasser, Piper 1996, und: The Origins of Order: Self-Organization and Selection in Evolution, Oxford University Press, 1993.

14 Vorausgesetzt das Feld enthält eine endliche Zahl weißer Felder oder eine endliche Zahl schwarzer Felder.

15 Selbst wenn ein solcher Beweis gefunden würde, gibt es andere auftretende Eigenschaften zellulärer Automaten, die formal unentscheidbar sind. John Conways „Spiel des Lebens“ ist ein Beispiel. Conway bewies, dass dieser zelluläre Automat als Äquivalent einer universellen Turing-Maschine konfiguriert werden kann, die über das Halteproblem zeigt, dass es keinen endlichen, allgemeingültigen Weg gibt herauszufinden, ob eine gegebene Startkonfiguration grenzenlos wächst.

16 Dale Allen Pfeiffer: Drawing Lessons from Experience. The Agricultural Crises in North Korea and Cuba. http://www.fromthewilderness.com/free/ww3/111703_korea_cuba_1_summary.html. Versuche, künstliche Gesellschaften im Einzelnen zu planen, haben durchgehend versagt. Je entschlossener die Bestrebungen zur Ausübung zentralisierter Kontrolle, desto dysfunktionaler wurden die Gesellschaften: Das stalinistische Russland und das heutige Nordkorea sind zwei hervorragende Beispiele. In kleinerem Rahmen haben sich Gemeinschaften wie die owenitischen Experimente des 19. Jahrhunderts schnell aufgelöst, es sei denn man hat zugelassen, dass sich der Gründungs-“Plan“ mit der Gesellschaft, welche auf ihn aufbaute, entwickelte.

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1998-2011 Charles Eisenstein