Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein

Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters

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Inhaltsverzeichnis:


Der Sinn der Natur

Die neo-darwinistische Darstellung der Evolution ruht auf zwei Hauptpfeilern, von denen jeder tief in unserem Weltbild verankert ist: Zufallsmutation und natürliche Auslese. Zufall ist das Gegenteil von Sinnhaftigkeit und eine notwendige Zutat zur Welt normierter, generischer Bausteine. Natürliche Auslese ist die Projektion der latenten Angst und des Wettbewerbs in unserer Kultur auf die Biologie. Diese Verbindung gewährleistet, dass Neo-Darwinismus die Orthodoxie des Zeitalters der Trennung bleibt.

Doch was genau behandeln Zufallsmutation und natürliche Auslese? Was ist das biologische Selbst, das Mutation erleidet und gegen andere Selbste im Wettbewerb um sein Überleben steht? Eine stimmige Antwort auf diese Frage ist für die Stimmigkeit des gesamten neo-darwinistischen Paradigmas entscheidend. Wenn wir stattdessen bloß eine weitere Projektion unserer kulturell bedingten Selbstkonzeption finden, dann ist auch das gesamte neo-darwinistische Gebäude eine Projektion.

Die Standardantwort lautet, dass das Subjekt natürlicher Auslese das Gen ist, die biologische Version des eigenständigen, getrennten Selbst. Indem sie ihre Umgebung manipulieren (durch die Organismen, die sie „codieren“, beherrschen und steuern) verkörpern Gene den Kampf ums Überleben, der die Evolution antreibt. Notwendigerweise beruht ihre vorherrschende Beziehung zueinander auf Wettbewerb: Sie sind hier, weil sie über Zeitalter hinweg alle ihre Mitbewerber überlebt und sich besser fortgepflanzt haben. Gene hegen nicht den Wunsch sich zu entwickeln, aber manchmal mutieren sie zufällig zu neuen Genen, die noch bessere Überlebens- und Fortpflanzungsfähigkeiten besitzen. Auf diese Weise entwickeln sich Gene ohne irgendwelche Absicht, Bestimmung oder Pläne. Evolution ist ausschließlich auf Gene ausgerichtet, die im Überleben und in der Fortpflanzung immer besser werden. Sofern das Wort „Sinn“ überhaupt eine Bedeutung besitzt, ist das der einzige Sinn der Gene. Was die Organismen betrifft – solche wie dich und mich – für welche die Gene den Code liefern, so sind diese lediglich die Instrumente, mit Hilfe derer Gene überleben und sich fortpflanzen. Isoliert von der Umwelt wie die cartesische Seele sind die Interessen der Gene lediglich zufällig in Übereinstimmung mit den Interessen des Organismus. Die Kämpfe, Wünsche und Anpassungen des Organismus beeinflussen das Gen nicht, noch tun dies die Bedürfnisse anderer Organismen. Die Beziehung zwischen Genen und Umwelt ist eine Einbahnstraße: Die Gene verändern die Umgebung durch die Organismen, die sie programmieren, aber der einzige Effekt, den die Umwelt auf die Gene hat, ist entweder die Verhinderung ihrer Weitergabe oder die zufällige Änderung durch Mutation. Das Gen ist der Herr, der Organismus der Knecht, die Umwelt der Behälter für Ressourcen und eine Quelle der Bedrohung.

Parallel dazu sehen wir die Menschheit als den Herrn, Technik als Diener und die Umwelt auch hier als Behälter für Ressourcen und eine Quelle der Bedrohung. Auf individueller Ebene benutzen Wirtschaft und andere Verkehrsmodelle menschlichen Verhaltens ein strukturell ähnliches Schema. Im Leben geht es um mich, was ich bekommen kann und wie ich es bekommen kann.

Die Integrität der neo-darwinistischen Weltsicht hängt von allen oben beschriebenen Elementen ab. Streiche eines und das gesamte Gewebe löst sich auf. Eine ganze Konstellation von Vorstellungen über die Natur des Selbst und den Lauf der Welt verschwindet gemeinsam mit ihm.

Heute löst sich in der Tat das gesamte neo-darwinistische Gewebe auf, und das trägt dazu bei und wird auch dadurch vorangetrieben, dass sich die übergeordneten Denkmuster über die Welt und das Selbst, die es einbetten, auflösen. Wir könnten mit jedem losen Faden des Neo-Darwinismus beginnen, und er wird uns zu allen anderen führen. Beginnen wir also mit dem Herz der biologischen Selbst-Definition – den Genen.

Im Gegensatz zum vorherrschenden Dogma sind die Gene tatsächlich nicht die Kommando- und Kontrollzentralen der Zelle, noch sind sie von den nicht-zufälligen – und daher in gewissem Sinne zweckbestimmten – Umwelteinflüssen isoliert. In seiner 1990 veröffentlichten Arbeit „Metaphors and the Role of Genes and Development“ argumentiert der bedeutende Biologe N.H. Nijhout, dass zwei zentrale Metaphern der Biologie, nämlich dass „Gene Entwicklung ’kontrollieren’ und dass Gene Entwicklungs-’Programme’ darstellen“, in hohem Maße irreführend sind. Er schreibt: „Die einfachste und auch einzig völlig korrekte Sichtweise der Funktion der Gene ist, dass sie Zellen und letztlich Organismen [und letztendlich die Umwelt?] mit chemischen Stoffen versorgen.“ Und: „Wenn ein Genprodukt benötigt wird, aktiviert ein Signal aus seiner Umwelt die Entfaltung des Gens, nicht eine emergente Eigenschaft des Gens selbst.21 Wenn das Gen das biologische Selbst ist, dann hat es nur wenige Eigenschaften der cartesischen Persönlichkeit. Es handelt sich um Projektionen. Das Gen ist nicht das Kontrollzentrum, nicht das Gehirn der Zelle. Tatsächlich können entkernte Zellen monatelang ohne Einschränkung von Bewegungsfähigkeit, Nahrungsverdauung, Abfallausscheidung, Gasaustausch, Kommunikation mit anderen Zellen und andere Antworten auf ihre Umwelt überleben – alles ohne Gene.22 Erst wenn ihre Proteinanteile sich zu verschleißen beginnen, lassen die Funktionen der Zelle nach.

Nimmt man das Gen als metaphorisches Analogon zum Selbst, dann existieren wir, um unsere Gaben zum größeren Ganzen beizutragen, dessen wir ein Teil sind. Etwas in unserer Umwelt ruft uns zu (aktiviert die Entfaltung des Gens) und wir liefern unsere einzigartige Gabe, was wiederum Beiträge anderer aktiviert. Das hat überhaupt nichts mit der Maximierung von Eigennutz zu tun!

Der Mikrobiologe Bruce Lipton bietet ein konzeptionelles Zellenmodell an, das die Rolle der Gene verdeutlicht.23 Das Gehirn der Zelle, sagt er, ist nicht der Kern, sondern eigentlich die Zellmembran, welche die Umgebung außerhalb der Zelle mit ihren Rezeptorproteinen wahrnimmt und dann mit Effektorproteinen diese Daten in Ausführungsanweisungen für das Zellinnere – einschließlich der DNS – übersetzt. Das, bemerkt er, ist auf schematischer Ebene exakt was das Gehirn tut. Die Gene können sich nicht selbst an- und ausschalten; das erledigt die Zellmembran mit ihren chemischen Boten. Der Kern und die Ribosomen sind lediglich die Fertigungsanlage, und nicht das Hauptquartier; die Festplatte, und nicht der Prozessor. Es ist tatsächlich die Zellmembran als Vermittlerin zur Umwelt, von wo die Anweisungen ursprünglich kommen. Im Gegensatz zu einem herrischen Selbst, das ein äußeres nicht-Selbst von seinem Hauptquartier aus manipuliert, haben wir Interaktion in beiden Richtungen, wo die Umwelt das Selbst genau so sehr formt, wie das Selbst die Umwelt gestaltet und die Trennung zwischen ihnen verwischt wird. Die Biologie eignet sich nicht mehr als metaphorisches Modell für den cartesischen „Sitz der Seele“, ein Zentrum des Bewusstseins und des freien Willens mit Aussicht auf eine mechanistische Welt toter Materie.

Die Tatsache, dass die Umwelt nicht nur die DNS an- und ausschaltet, sondern dass sich DNS auch auf nicht zufällige Weise ändern kann, untergräbt die Unterscheidung zwischen Selbst und Anderem noch weiter. Zellen und Organismen – und durch sie andere Lebensformen sowie die Umwelt insgesamt – können ihre eigene DNS modifizieren, um notwendige Merkmale herzustellen. Darüber hinaus können diese Modifikationen Keimzellen betreffen, so dass die entsprechenden erworbenen Merkmale vererbt werden können.

Moment mal. Habe ich da gerade den Lamarckismus erklärt, die gründlich diskreditierte Theorie der Vererbung erworbener Eigenschaften, wie sie 1806 von Jean Baptiste Lamarck aufgestellt worden ist? Lamarckismus, von dem George Bernard Shaw 1921 schrieb: „Der arme Lamarck wurde als plumper, zu Fall gebrachter Ahnender beiseite gefegt, kaum wert [Darwins] falsch liegender Vorläufer genannt zu werden.“24 Trotz 200 Jahren unermüdlichen Spotts erhält Lamarcks Grundidee zunehmend Bestätigung. Viel mehr als bloß der Evolutionsmechanismus steht auf dem Spiel, denn Lamarcks Theorie war nicht so simpel gestrickt wie das üblicherweise verhöhnte Beispiel, dass „jede Giraffen-Generation ihre Hälse streckte, um an höher hängende Blätter zu gelangen und die längeren Hälse an die nächste Generation weitergereicht wurden.“ Der springende Punkt dieses Denkens wird im Folgenden dargelegt:

„Nicht die Form des Körpers oder seiner Teile lässt die Verhaltens- und Lebensweisen der Tiere entstehen; es sind im Gegenteil die Lebensweisen, Verhaltensweisen und all die anderen Umwelteinflüsse, die im Lauf der Zeit die Körper- und Körperteilformen der Tiere gestaltet haben. Mit der neuen Form wurden neue Fähigkeiten erworben und Stück für Stück gelang es der Natur, Tiere so zu gestalten, wie wir sie nun sehen.“25

Natürlich müssen wir Lamarcks Theorie mit Hilfe des Wissens über die genetischen Grundlagen von Vererbung und Morphologie interpretieren. Um daraus eine funktionierende Theorie zu machen, müssen die erworbenen Eigenschaften aus Änderungen weitergebbarer Gene herrühren. Lamarckismus in seiner modernen Ausprägung stellt schlicht fest, dass diese Änderungen im Verlauf eines Lebens durch gezielte Anpassungen erworben werden können; Neo-Darwinismus behauptet dagegen, diese kämen ausschließlich von Zufallsmutationen. So ist das Experiment, das zum Inhalt hatte, Lamarckismus ein für alle Male zu widerlegen, eigentlich überhaupt keine Prüfung des Lamarckismus. Weismanns Versuch mit Mäusen, denen er in jeder Generation die Schwänze abgeschnitten hatte und deren Folgegeneration stets mit normal langen Schwänzen geboren worden ist, beschädigt bestenfalls eine reduzierte und verdrehte Lamarckismus-Karikatur.

Wenn erworbene Eigenschaften vererbt werden können, dann ist die Tür offen für eine Vererbung, welche die Bestimmung von Organismus und Umwelt abbilden kann. Shaw interpretiert Lamarck folgendermaßen: „Wie bekam sie ihren langen Hals? Lamarck würde gesagt haben, weil sie an die zarten Blätter hoch oben im Baum gelangen wollte und es versuchte, bis es ihr gelang, die nötige Halslänge herbeizuwünschen.“ Evolution findet anders ausgedrückt durch Wollen, mit Absicht statt. Shaw schreibt weiter:

„Auch eine andere Antwort wäre denkbar: nämlich dass ein prähistorischer Viehzüchter, der eine Kuriosität der Natur produzieren wollte, die langhalsigsten Tiere auswählte, die er finden konnte, und diese kreuzte, bis sich schließlich durch künstliche Auslese ein Tier mit abnorm langem Hals entwickelte, genau so, wie das Rennpferd oder die Pfauentaube entwickelt wurden. Sie werden bemerken, dass beide Erklärungen Bewusstsein, Willen, Gestaltung und Sinn einbeziehen, entweder seitens des Tieres selbst oder seitens einer überlegenen Intelligenz, die ihr Schicksal in der Hand hat. Darwin wies darauf hin – dies und nicht mehr war Darwins große Entdeckung – dass eine dritte Erklärung ohne Willen oder Bestimmung oder Gestaltung durch das Tier oder sonst jemand zur Debatte stand. Wenn dein Hals zu kurz ist, um ans Futter zu kommen, stirbst du. Das könnte die einfache Erklärung der Tatsache sein, dass die Hälse aller überlebenden Tiere, die sich von Laub ernähren, lang genug sind, um es zu erreichen. Da geht er hin, der Glaube, dass Hälse zwecks Erreichen der Nahrung passend gestaltet werden müssen. Doch Lamarck glaubte nicht, dass die Hälse von Anfang an so gestaltet waren; er glaubte, dass die Hälse durch Wollen und Versuchen entwickelt wurden. Nicht notwendigerweise, sagte Darwin... Nehmen wir an, die durchschnittliche Höhe des Laub fressenden Tiers wäre vier Fuß und dass es sich zahlenmäßig vermehren kann, bis eine Zeit kommt, in der alle Bäume bis vier Fuß Höhe abgefressen wären. Nun werden die Tiere, die zufällig einen Zoll oder zwei kleiner als der Durchschnitt sind, verhungern. Alle Tiere, die zufällig einen Zoll oder so über dem Durchschnitt lägen, wären besser ernährt und stärker als die anderen... Und das, merken Sie es sich, ohne Eingreifen eines menschlichen oder göttlichen Viehzüchters und ohne Willen, Sinn, Gestaltung oder sogar Bewusstsein jenseits des blinden Willens zur Stillung des Hungers. Es stimmt, dass dieser blinde Wille, der im Grunde der Lebenswille ist, den ganzen Fall ruiniert; trotzdem kann der darwinistische Prozess, im Vergleich zum Lamarckschen intelligenten Wollen und Versuchen sehenden Auges, als Zufallskapitel beschrieben werden. Dadurch erscheint es simpel, denn man bemerkt zunächst nicht, was es alles mit sich bringt. Doch wenn einem seine ganze Bedeutung schwant, sinkt einem das Herz in die Hose. Es liegt ein abscheulicher Fatalismus darin, eine gespenstische und verdammenswerte Reduzierung von Schönheit und Intelligenz, von Stärke und Bestimmung, von Ehre und Bestreben... Dies Natürliche Auslese zu nennen ist eine Lästerung, möglich für viele, denen die Natur nichts als eine zufällige Ansammlung träger und toter Materie erscheint.“

Ironischerweise ist es nun der Neo-Lamarckismus, der eine „dritte Erklärung“ neben intelligentem Design und dem Zufall anbietet: „Bewusstsein, Wille, Gestaltung, Zweck“ können die Evolution auch ohne äußeren Gestalter oder Bestimmer lenken. Und lediglich um das volle Ausmaß der Ketzerei deutlich zu machen, möchte ich betonen, dass nicht nur Organismen und Zellenselbst ihre DNS modifizieren – das Verschwimmen von Selbst und Anderem geht tiefer. Die außerkörperliche Umwelt nimmt an der Modifikation der Gene teil, so dass diese nicht nur dem Zweck des Organismus dienen, sondern auch der Gemeinschaft, dem Ökosystem und dem Planeten, vielleicht sogar dem Kosmos.

Mit anderen Worten geht es nicht nur darum, dass die Giraffe höhere Ebenen erreichen möchte oder dass die Urmenschen Hände haben wollten, die Werkzeuge greifen konnten. Eine leere Nische der Umwelt erzeugt einen evolutionären Sog. Ein sich entfaltendes Muster zieht Lebewesen an, die nötigen Rollen zu übernehmen. Um nicht zu sagen: Die Welt wollte es ebenfalls. Metaphorisch gesprochen werden unsere Gaben und Fähigkeiten durch die Möglichkeiten des Lebens und durch die Bedürfnisse der Welt hervorgerufen. Es gibt sie nicht schon unabhängig davor, so dass man sie gewaltsam einem unbewussten Universum aufzwingen könnte. Evolution einer Seele oder einer Spezies geschieht in Zusammenarbeit mit der Evolution von allem. „Lamarckismus“ ist ein verunglimpfender Ausdruck, denn seine Lehre ist unentrinnbar teleologisch.

Dass erblicher Wandel mehr ist als eine planlose Auswahl zufällig generierter Möglichkeiten, ist für das Kontrollprogramm unserer Kultur problematisch, denn das unterhöhlt die Ideologie, die uns zu „Herren und Besitzern der Natur“ macht. Während in Darwins Schema der letzte Lebenszweck das Überleben ist, räumt Lamarck eine höhere Bestimmung ein, die mit Wille oder Absicht verbunden ist. Und wenn die Formen und Systeme der Natur einen Sinn zum Ausdruck bringen, dann müssen wir unsere absolute Oberhoheit über die Natur anzweifeln; wir müssen die Annahme bezweifeln, dass wir die Natur ungestraft grenzenlos gestalten können, besonders wenn wir dies in Unkenntnis ihres Sinns tun. In einem blinden, zweckfreien Universum haben wir völlige Freiheit, unserem Willen zu folgen, denn es gibt keine natürliche Ordnung, die wir stören könnten, keine Vorsehung, der wir in die Quere kommen könnten, tatsächlich überhaupt keine Vorsehung außer der von uns geschaffenen. Doch wenn es einen Sinn im Lauf der Welt gibt, dann muss sich die gesamte Ausrichtung der Wissenschaft ändern, weg vom Verstehen zum reinen Zweck der Kontrolle, hin zu einem Verstehen in Übereinstimmung mit dem Sinn der Natur. Wenn wir uns fragen: „Wozu sind wir da?“, dann werden wir unsere angemessene Rolle und Funktion auf dem Planeten und im Universum suchen. Dieser Übergang, von dem ich glaube, dass er unvermeidlich aus den hier beschriebenen neuen wissenschaftlichen Paradigmen resultieren wird, steht für unseren Verzicht auf die Vortäuschung von Herrschaft über die Natur, um bescheidene Schüler der Natur zu werden.

Weil wir die Natur durch unsere kulturelle Linse der Trennung, des Wettbewerbs und der Überlebensangst betrachtet haben, waren wir lange für die Tatsache blind, dass Natur nicht immer auf diese Weise funktioniert. Gleichwohl häufen sich die Beweise für die Nicht-Zufälligkeit genetischer Veränderung. Es wird nun weitgehend akzeptiert, dass die genetischen Mutationsraten steigen, wenn Organismen Stress ausgesetzt sind, vermutlich um die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einer Mutation zu erhöhen, die besser an den Stressfaktor angepasst ist.26 Ein neuerer Artikel in Nature, einer Zeitschrift, die wissenschaftlichen Konsens wiedergibt, vertritt die Auffassung: „Es ergibt Sinn, dass Stressreaktionen Mutationen verursachen; es könnte eine ’ausgewählte’ Eigenschaft sein, welche die genetische Variation erhöht und so die ’Entwicklungsfähigkeit’ unter Stress erhöht, wenn Organismen suboptimal an ihre Umgebung angepasst sind. Die meisten Mutationen wären schädlich oder neutral, aber einige wenige Anpassungsmutationen würden ebenfalls auftreten.“27 Die jüngere Forschung besagt, dass dieser „Stress“ ziemlich allgemein auftretende Nahrungsknappheit sein kann, so dass beschleunigte Mutation ein normaler Zustand bakteriellen Lebens ist. Obwohl man glaubt, dass solche Mutationen noch immer zufällig stattfinden, ist stress-induzierte Mutagenese ein immenses Problem für die Standardtheorie vom egoistischen Gen. Die für die Auslese zuständige Einheit sollte das Gen sein, nicht der Organismus! Genetische Eigenschaften wie die Wandlungsfähigkeit, die dem Organismus irgendwie helfen, die die Replikation des Gens in künftigen Generationen jedoch nicht voranbringen, müssten aussortiert werden.

Weitaus umstrittener ist ein Konzept, das manchmal Adaptive Mutation genannt wird und in der Biologie seit den Tagen Jean-Baptiste Lamarcks hin und wieder in diversen Masken auftaucht. 1988 durch John Cairns wieder eingeführt behauptet es, dass Mutationen nicht völlig zufällig seien, sondern irgendwie zu einem adaptiven Zweck neigten.28 Cairns deaktivierte ein E.coli-Gen, das ein Verdauungsenzym für Laktose herstellte und setzte E.coli dann in ein reines Laktose-Medium. Zu seiner Überraschung mutierte das deaktivierte Gen wieder in seine ursprüngliche, enzymproduzierende Form – nicht in jeder Bakterie, aber mit höherer Rate als in einer Vergleichskultur, wo den Bakterien andere Nahrungsquellen als Laktose zur Verfügung standen. Obwohl es Konsens ist, dass eine allgemein erhöhte (jedoch noch immer zufällige) stressbedingte Mutationsrate dieses Ergebnis erklären kann, stützen andere Untersuchungen den Gedanken, dass dies in Wahrheit Lernfähigkeit gewesen sein könnte. B.G. Hall fand heraus, dass sich eine ähnliche E.coli-Mutation ereignete, welche in Hungerzeiten die Verwendung von Arbutin-Zucker erlaubte – jedoch nur, wenn Arbutin im Nährboden war!29 Die Mutation lief in viel größerem Umfang ab, wenn sie nützlich war. Andere Untersuchungen haben herausgefunden, dass erhöhte Mutationsraten unter Stress nicht gleichmäßig über das Genom verteilt sind, sondern in genau den Bereichen sehr viel höher lagen, die nützliche Mutationen hervorbringen konnten.30 Heute wütet die Kontroverse noch immer, wobei die orthodoxe Meinung darauf besteht, dass stressinduzierte Hypermutabilität die adaptive Mutation vollständig erklären kann und damit den Darwinismus stützt.

Es gibt mehrere Gründe für die Abneigung des Mainstream gegen wahre Adaptive Mutation. Einige Kommentatoren scheinen zu fühlen, das jene ein „gespenstisches Vorwissen“31 darüber einschließen würde, welche Mutationen nützlich seien. Ich persönlich bin ein Fan gespenstischen Vorwissens, aber im Fall adaptiver Mutation ist das unnötig. Alles was man braucht, ist eine Methode, mit der die DNS Signale aus der Umwelt wahrnehmen und verinnerlichen kann; anders ausgedrückt, einen Weg, mit dem die Umwelt die DNA ansprechen kann, um sie zweckmäßig zu verwandeln, so wie die DNS mittels des Organismus die Umwelt verändert. Adaptive Mutation impliziert eine enge Kopplung zwischen Gen und Umwelt, was die gesamte Definition des biologischen Selbst in Frage stellt. Die Behauptung, dass das Gen auf die Umwelt reagiere, ist eine Einbildung; wir könnten genau so gut sagen, dass die Umwelt das Gen formt.

Die genauen Mechanismen, wie das geschieht, sind nicht bekannt und wegen des weit verbreiteten Glaubens, dass die Natur so nicht funktioniert, zumeist unerforscht. Gleichwohl gibt es bereits einige bestätigte Beispiele sowie ein paar interessante Spekulationen. Die Mainstream-Biologie akzeptiert seit langem, dass reverse Transkriptase der RNS erlaubt, die DNS zu überschreiben und dass Antikörper in Immunzellen dabei helfen, die DNS zu ändern, die sie produziert. Noch radikaler, doch nun weitgehend akzeptiert, ist die Beobachtung, dass epigenetische Proteine ebenfalls vererbbaren Modifikationen durch die Umwelt ausgesetzt sind. Und noch radikaler sind die Vorschläge, die sich auf elektromagnetische oder Induktion genetischen Wandels durch andere Schwingungen berufen. Schließlich muss ich Johnjoe McFaddens sehr geschickten Versuch erwähnen, das „gespenstische Vorwissen“ durch den Quanten-Zeno-Effekt wieder in die Evolution einzuführen.32 Seine vollständige Herleitung geht über den Rahmen dieses Kapitels hinaus, aber im Wesentlichen glaubt er, dass Gene sich Quantensuperpositionen von Zuständen zunutze machen können, um den Suchraum möglicher Mutationen zu prüfen, deren Lebensfähigkeit durch den Beobachter-Effekt ihrer eigenen Nachkommen bestätigt wurde.

Wie auch immer der Mechanismus aussehen mag, die Beweise türmen sich, dass die Umwelt Gene durch Mechanismen jenseits natürlicher Auslese beeinflusst. Die Beweise türmen sich eigentlich schon sehr lang, denn Charles Darwin, der selbst bemerkenswert frei vom Darwinismus-Dogma war, erkannte 1888 an:

„Meiner Meinung nach war der größte von mir begangene Fehler, nicht genügend Gewicht auf die direkten Einflüsse der Umwelt, d.h. Nahrung, Klima usw. unabhängig von der natürlichen Auslese gelegt zu haben... Als ich „Ursprung“ geschrieben habe sowie einige Jahre danach, konnte ich wenig brauchbare Beweise für den direkten Einfluss der Umwelt finden; nun gibt es eine größere Menge Beweise.“33 [Betonung von mir]

Wenn Darwin sich 1888 dessen bewusst war, warum ignorieren die meisten Biologen dann heute noch immer diesen „brauchbaren Beweis“? Tatsächlich ist die Beweislage heute weitaus besser. Das institutionelle Bestehen auf den Vorrang der DNS als „Lenker und Programm“ der Morphologie und des Verhaltens und auf die Zufälligkeit ihrer Evolution, vorangetrieben ausschließlich durch natürliche Auslese, leitet sich nicht von Beweisen her, sondern von tiefsitzenden kulturellen Annahmen darüber, wer wir sind.

Die von der adaptiven Mutation gestellte Herausforderung stößt direkt ins Herz des dualistischen Welt- und Selbstbilds unserer Kultur. Der Sinn, einst alleinige Domäne des bewussten Selbst aus der Psychologie (oder wenigstens des fühlenden Selbst aus der Biologie), entschlüpft den Beschränkungen individueller Handelnder – Bezwecker – um eine Eigenschaft der Welt als Ganzes zu werden. Die Gene handeln nicht mehr aus Eigennutz heraus, nicht einmal, wie wir sehen werden, dem Eigennutz des Organismus, von dem sie ein Teil sind. Anstatt die Quelle von Sinn zu sein (was lediglich zu überleben hieße), sind sie ein Mittel, durch das Organismus und Umwelt Sinn verkörpern. In welchem Sinn sind in diesem Fall die Gene der Kern der biologischen Persönlichkeit? Ja, sie tragen vererbbare Anweisungen zur Herstellung von Körpern, aber es sind Signale von außen, die sie aktivieren. Diese Anweisungen sind auch nicht unverletzlich; sie können leicht entsprechend der Bedürfnisse modifiziert werden. Wäre Das-was-sie-modifiziert nicht eine passendere Wahl als Persönlichkeit? Unsere cartesischen Intuitionen sagen uns, dass die höchste Autorität irgendwo sein muss. Aber der Auslöser oder Modifikator ist ebenfalls keine eigenständige Einheit: Es ist die Zelle, der Organismus, sogar die Umwelt. Das Selbst ist nicht mehr so eng gefasst; darum ist es auch Eigennutz nicht. Wer sind wir? Die Frage besitzt keine endgültige Antwort. Verschiedene Antworten helfen bei verschiedenen Zwecken, aber keine ist vollständig. Natürliche Auslese bedarf für ihre Vorrangstellung des gesonderten Selbst, damit es auf dieses einwirken kann, doch wir erkennen nun, dass das biologische Selbst, das Subjekt natürlicher Auslese, nicht gesondert ist, sondern fließend und graduell mit dem genetischen Raum verschmilzt.

Direkte Beweise für adaptive Mutation sind noch immer uneinheitlich. Wenn jedoch die natürliche Auslese durch Zufallsmutationen sich replizierender DNS nicht der Hauptbeweger der Evolution ist, dann müssen wir ein stimmiges Bild des Lebens, seiner Ursprünge und seiner Entwicklung schaffen, das nicht auf Wettbewerb zwischen getrennten genetischen Subjekten beruht. Zum Glück taucht nun gerade eine solche Geschichte auf und infiltriert allmählich die Mainstream-Biologie. Es ist eine Geschichte, in der Zusammenarbeit genau so wie Wettbewerb die Beziehungen zwischen den Lebewesen bestimmt, in dem Symbiose und Verschmelzung über fließende genetische Grenzen hinweg die Evolution vorantreiben, und in dem Bestimmung sowohl von innerhalb als auch außerhalb des Organismus herrührt. Biologie ist keine Studie getrennter und wettstreitender Selbste mehr, und diese Idee wird unsere Einsichten über den Lauf der Welt nicht länger beeinflussen.

21 Nijhout, H.F., Metaphors and the role of genes in development.”BioEssays, Bd.12 (1990) S.444-446.

22 Lipton, Bruce. The Biology of Belief. Mountain of Love Productions, Rohfassung vor Veröffentlichung, keine Seitenzählung.

23 ebd.

24 Aus dem Vorwort zu Shaws Schauspiel Zurück zu Methusalem. Es lohnt sich, das gesamte Essay zu lesen, das viele der spirituellen Verästelungen des darwinistischen Paradigmas sprachgewandt ausbreitet.

25 Larmarck, Jean Baptiste, Zoological Philosophy: An Exposition with Regard to the Natural History of Animals, London 1914, Reprint: Univ. of Chicago Pr. 1984 (dt.: Zoologische Philosophie)

26 Es sind zu viele Studien, die diese Annahme unterstützen, als dass man sie alle nennen könnte. Viele wurden an Bakterien durchgeführt, z.B. Loewe, L., Textor, V., and Scherer, S., ”High deleterious mutation rate in stationary phase of Escherichia coli.ïn: Science Bd. 302 (2003), S. 1558-1560

27 Rosenberg, Susan M. und P.J. Hastings, ”Genomes: Worming into Genetic Instability”, Nature Bd. 430, August 5, 2004, S. 625 - 626.

28 Cairns, J., J. Overbaugh, and S. Miller, 1988 The Origin of Mutants.”Nature Bd. 335, S. 142-145.

29 B.G. Hall, Äctivation of the bgl operon by adaptive mutation”, Molecular Biology and Evolution. Jan. 15, 1998 S. 1-5.

30 Rosenberg, Susan. Ëvolving Responsively: Adaptive Mutation”Nature Reviews Genetics Bd. 2, 2001, S. 504 -515. Eine zusammenfassende Übersicht zum Stand der Forschung bei Adaptiver Mutation.

31 T. Beardsley, Ëvolution Evolving,”Scientific American, September 1997, S. 15–18.

32 McFadden, Johnjoe, Quantum Evolution, Norton, 2001.

33 Darwin 1876, Brief an Moritz Wagner, erwähnt in Obituary Notices of the Proceedings of the Royal Society, Bd. 44, 1888.

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1998-2011 Charles Eisenstein