Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein

Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters

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Inhaltsverzeichnis:


Das Zusammentreffen von Krisen

Für Menschen, die in das Studium irgendeiner der Krisen vertieft sind, die unseren Planeten heimsuchen, ist es offensichtlich, dass wir dem Untergang geweiht sind. Politik, Finanzen, Energie, Bildung, Gesundheit und insbesondere das Ökosystem nähern sich einem fast sicheren Kollaps. In den zehn Jahren, die ich mit dem Schreiben dieses Buches zugebracht habe, bin ich mit jeder dieser Zivilisationskrisen bekannt geworden, genug, um ein Gespür für ihre Größe und Unvermeidlichkeit zu bekommen. Jedes Jahr habe ich mich gefragt, ob dies das letzte „normale“ Jahr unseres Zeitalters sei. Ich fühlte eine Scheu davor, was ein Kollaps bringen würde und begegnete der Verzweiflung über das Wissen, dass unsere besten Bemühungen zu seiner Abwendung klein erscheinen gegenüber den Kräften, die uns in die Katastrophe treiben.

Eines der Hauptziele dieses Buches ist es, über jene Verzweiflung zu sprechen. Als Antwort biete ich einen glaubwürdigen und unerwarteten Optimismus an. Es ist kein blinder Optimismus, der das Ausmaß unserer Krise ignoriert, sondern ein praktischer, der all die hässlichen Fakten über unsere Welt sieht und integriert. Es ist ein Optimismus, der vollkommen der Schrecken und des Leids bewusst ist, die so alt sind wie die Zivilisation und die sich nun im Zusammentreffen der Krisen dem Gipfel der Fieberkurve nähern, welchen wir beinahe erreicht haben.

Zuerst und zuvorderst bin ich mir der Umweltkrise bewusst: Klimawandel, Wüstenbildung, Korallenbleiche, Waldsterben, Bodenerosion, Zerstörung von Lebensraum, unumkehrbarer Verlust von Artenvielfalt, toxische und radioaktive Abfälle, PCBs in jeder lebenden Zelle, die riesigen Flecken verschwindenden Regenwaldes, die toten Flüsse, Teiche und Seen, Müllhalden und Steinbrüche, die lebendige Welt auf Profit und Straßenbelag reduziert.

Ich bin mir Peak-Oil bewusst und der Abhängigkeit aller Bereiche unserer wirtschaftlichen Infrastruktur und Nahrungsversorgung von fossilen Brennstoffen. Und ich erkenne, dass keine der konventionell anerkannten Energiequellen irgendwie hoffen kann, Öl und Gas bald zu ersetzen.

Ich bin mir der drohenden Gesundheitskrise bewusst: dem epidemischen Auftreten von Autoimmunerkrankungen; den Ursachen und Wirkungen von Schwermetallvergiftungen, elektromagnetischer, chemischer und genetischer Verschmutzung. Ich bin mir des Verfalls moderner Ernährung bewusst, der Giftigkeit der meisten pharmazeutischen Medikamente, der Unterdrückung alternativer Therapien.

Ich bin mir der Zerbrechlichkeit des globalen Finanzsystems bewusst, eines seit 500 Jahren perfektionierten Pyramidenschemas, sowie der Hyperinflation, des Währungsverfalls und der Depression, welche auf den Tag warten, an dem die amerikanische Schuldenpyramide nicht länger aufrecht erhalten werden kann.

Ich weiß um den politischen Trend zum Faschismus und zum Überwachungsstaat, die kaum verhüllten Krisenplänen zur Einführung des Kriegsrechts, die Konzentration der Medienmacht und die allgegenwärtigen Propagandamaschine – so erfolgreich, dass sogar ihre Betreiber sich ihrer nicht bewusst sind – welche die Geiselnahme der Regierung in der am schwersten bewaffneten Nation der Welt im Namen des Profits rechtfertigt. Ich weiß bescheid über die Umtriebe der globalen Macht-Elite, ihre Abhängigkeit von den Waffen, Narkotika und Gefängnisindustrien, und ihr immer verzweifelteres Festhalten an ihrer Macht, während alles auseinanderfällt. Auch mache ich mir nicht vor, wir könnten das System heilen, indem wir ein paar faule Äpfel entfernen, denn ich erkenne, dass beinahe jede wichtige Einrichtung unserer Zivilisation Beihilfe zur Plünderung leistet.

Ich bin mir bewusst, dass der blutige Schrecken, der unsere Zivilisation seit langem verfolgt, heute im Grunde unvermindert andauert. Mein Optimismus ignoriert nicht die Tutsi-Babys, die vor den Augen ihrer Mütter an Wänden zerschmettert wurden. Er ignoriert nicht den in der Geschichte stets von neuem wiederholten Völkermord, ohne Ende in Sicht. Auch ignoriere ich nicht die weitverbreitete Folter in Gefängnissen und Polizeistationen überall auf der Welt, einschließlich meines eigenen Landes.

Mein Optimismus ist sich der fortschreitenden Zerstörung der Sprachen, Kulturen und Gemeinschaften der Welt durch die Hand alles verschlingender globaler körperschaftlicher Konsumenten-Monokultur bewusst. Ich kenne die Arbeitsbedingungen in Fabriken der Dritten Welt und des nackten Elends und der Verzweiflung, die dort herrschen. Ich habe Menschen getroffen, die 80-Stunden-Wochen arbeiten, was sie kaum über Wasser hält, nur damit die entwickelte Welt unter nutzlosen Bergen Plastikmüll erstickt, ihrem ganz eigenen Beitrag zur Misere.

Ich bin mir bewusst, dass sogar die Gewinner, die Privilegiertesten unter dem gegenwärtigen globalen Regime, eigentlich zu den bedauernswertesten Opfern gehören. Ich bin Zeuge der Entfremdung, Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit der sehr Reichen geworden, deren Erwerb von Villen, Geld, Sport, Autos, Wohlstand, Prestige und Macht die innere Leere nicht zu füllen vermögen.

Wie der freimütigste Radikale bin ich mir bewusst, dass unsere Schulen zu Gefängnissen geworden sind, in manchen Fällen sogar vollkommen – mit Stacheldrahtverhauen, Metalldetektoren, unangekündigten Schließfachkontrollen, Uniformen, Verbot persönlicher Dinge, Drogentests, bewaffneten Wächtern, verdeckten Ermittlern, Videoüberwachung und chemischer Kontrolle jener, die sich nicht unterordnen. Ich weiß von Eltern, denen man mit Rechtsschritten gedroht hat, sollten sie ihre Kinder nicht medikamentieren.

Auch stützt sich mein Optimismus nicht auf den Technologie-Gott, der kommt um uns zu retten, denn ich bin mir bewusst, dass Technologie der Plünderung des Planeten, der Beschleunigung des Lebens und der Entmenschlichung der Welt Vorschub geleistet hat, während man sie in Geld, Besitz und Daten umgewandelt hat.

Denk also bitte nicht, dass ich nur ein Optimist bin, weil ich die wahren Ausmaße der Krise nicht begreife. Ich habe all das einbezogen und bleibe doch ein Optimist. Die Sorte Optimismus, die man mit heiterer Ignoranz der Tatsache verbindet, dass viele Menschen heute in der Hölle leben und neue Höllen erzeugen, ist überhaupt kein Optimismus, sondern bloße Phantasie. Das ist die Sorte Optimismus, die eine Giftmülldeponie zudeckt und vergisst, dass hier je etwas anderes als ein Parkplatz gewesen ist. Aus den Augen, aus dem Sinn.

Wie die Parkplatzmetapher andeutet, ist falscher Optimismus dieser Art in Wirklichkeit ein Katastrophenrezept. Mein Optimismus ist von anderer Sorte, unabhängig von der Logik technologischer Lösungen, die besagt, dass diese unter den Teppich gekehrten Probleme nicht wichtig seien – dass Wissenschaft schließlich eine Antwort finden wird, dass Technologie einen Weg finden wird. Ich denke, dass die meisten von uns das inzwischen durchschauen, weil das lang erwartete technologische Utopia immer weiter in die Zukunft entweicht.

Es ist nicht meine Absicht, dich zu überzeugen, dass wir tatsächlich einer Umwelt-, Finanz-, Politik-, Energie-, Boden-, Gesundheits- oder Wasserkrise gegenüberstehen. Andere haben das weit überzeugender getan als ich. Auch ist es nicht mein Ziel, dir Hoffnung einzuhauchen, dies sei abwendbar. Das ist nicht möglich, denn das, was geschehen muss, um sie abzuwenden, wird nur als Folge aus ihnen geschehen. Alle gegenwärtigen Vorschläge zur rechtzeitigen Kursänderung, um den Zusammenbruch zu vermeiden, sind uneingeschränkt undurchführbar. Mein Optimismus gründet sich auf das Wissen, dass die Definition von „machbar“ und „möglich“ sich bald ändert, wenn wir kollektiv auf den Boden aufschlagen.

Man kann es auch so ausdrücken, dass mein Optimismus sich auf ein Wunder stützt. Nein, keine übernatürliche Instanz, die kommt, um uns zu retten. Was ist ein Wunder? Das Wunder rührt von einem neuen Gefühl her, was möglich ist, geboren aus der Preisgabe des Versuchs, das Leben zu planen und zu kontrollieren. In der Erfahrung des Einzelnen geschehen Wunder oft, wenn uns das Leben überwältigt. Für einen Alkoholiker ist die Empfehlung „einfach mit dem Trinken aufzuhören“ lachhaft, unmöglich, unvorstellbar. Es bedarf eines Wunders. Auf jene Veränderungen, die zur Rettung des Planeten geschehen müssen, trifft das selbe zu. Kein Mainstream-Politiker schlägt sie vor; wenige sind sich überhaupt bewusst, wie tief die Änderungen gehen müssen.

Wenn sich die oben genannten Krisen zuspitzen, wenn wir akut und unleugbar erleben, dass die Situation außer Kontrolle ist, wenn das Versagen des alten Regimes völlig klar ist, dann werden Lösungen, die heute hoffnungslos radikal erscheinen, eine Sache des gesunden Menschenverstands werden.

Und es wird geschehen. Der genaue Zeitpunkt für die einzelne Krise ist unsicher, aber die sie treibenden Kräfte sind erbarmungslos und werden früher oder später unausweichlich zum Ausdruck kommen. Prozesse, die vor langem in Bewegung gesetzt worden sind, haben die kritische Masse überschritten; wir fangen gerade erst an, ihre Folgen zu spüren. Selbst wenn wir irgendwie sofort jede weitere Verschmutzung verhindern würden, sind die kumulativen Auswirkungen bestehender ökologischer Schäden genug, eine Katastrophe auszulösen. Die selbe Unausweichlichkeit gilt auch für andere Bereiche: öffentliche Gesundheit, Bildung, Finanzen und Politik. Es ist bereits zu spät. Nur noch eine Frage, wie bald, wie schwer, für wie lang. Egal wie schlimm du glaubst, dass es ist, wird es wahrscheinlich noch ärger. Lies Bücher wie The Dying of the Trees oder Boiling Point, wenn du mir nicht glaubst.

Wie bei der Titanic ist die Trägheit der technologischen Gesellschaft so enorm, dass sich, selbst wenn wir den Antrieb umkehrten und sofort hart steuerten, die kurz- und mittelfristigen Abläufe der Ereignisse kaum ändern würden. Wir sind auf einem nicht mehr abwendbaren Kollisionskurs mit der Natur. Dennoch haben wir nicht nur wenig unternommen, um zu bremsen oder vom herannahenden Eisberg wegzusteuern; wir haben ahnungslos eine „Volle Kraft voraus!“-Politik betrieben. In den USA läuft die Politik der Republikaner im Grunde auf „Welcher Eisberg?“ hinaus, während die Demokraten den Kurs um ein paar wenige Grade ändern möchten aber nicht so schnell, dass Drinks auf dem Deck der ersten Klasse verschüttet werden. Die auf dem Tisch liegenden „machbaren“ Vorschläge und durchführbaren Kompromisse sind beklagenswert unzureichend. Eine Partei lehnt den Kyoto-Vertrag ab, die andere pflichtet ihm bei, doch wenige geben zu, dass sogar das weitaus zu wenig ist und viel zu spät kommt. Außerhalb der Vereinigten Staaten schüren „Entwicklungs“länder wie Indien und China begünstigt durch westliche Institutionen die Kessel der Titanic mit ihrer überstürzten Industrialisierung, bei der sie das alte lineare Modell von Extraktion, Verarbeitung, Konsum und Wegwerfen anwenden.

Und derweil geht die Party an Deck weiter, wie sie selbst noch weitergehen wird, wenn das erste Knirschen das Schiff durchläuft, und sogar während der eisige Sturzbach Abteil für Abteil verschluckt. Auf dem Oberdeck wird die Kapelle weiterspielen, um eine verzweifelte und tödliche Illusion von Normalität aufrecht zu erhalten, sogar während das Schiff Schlagseite bekommt und rollt.

Zu jenem Zeitpunkt wird der völlige Bankrott des Programms des Wettbewerbs, der Sicherheit und finanziellen Unabhängigkeit anfangen so ungeheuerlich offenbar zu werden, dass niemand es ignorieren kann. Ich las einmal ein pessimistisches Buch über die Unternehmenswelt, das eine polarisierte Gesellschaft vorhersagte, mit von Kriminalität regierten Slums und wohlhabenden eingemauerten, verschlossenen, eingezäunten, alarmgesicherten, bewachten Kommunen. Der Rat des Autors war, es so einzufädeln, dass man in letzteren wohnt! Das ist gleichbedeutend mit der Erklimmung des höchsten Decks eines sinkenden Schiffs. Alle reden vom stärker werdenden Konkurrenzdenken unserer Zeit, was mir Massen von Ratten vor das innere Auge ruft, die sich nach oben kämpfen und krallen – wo sie lediglich ein paar Minuten später als der Rest untergehen werden.

Ja, du kannst dich so weit als möglich von den Kriegszonen, Müllverbrennungsanlagen, Giftmülldeponien, Smog-Bereichen, üblen Wohnvierteln und anderen Gefahren einer zunehmend giftigen Welt entfernen, aber früher oder später werden die sich anhäufenden Krisen unserer Zeit alle Verteidigungslinien durchbrechen. Egal wie sehr du deine Investitionen streust, egal wie viele Waffen in deinem vermauerten Anwesen oder wieviele Nahrungsmitteldosen in deinem Keller liegen, werden dich die Gezeiten des Unheils schließlich verschlingen. Tore, Schlösser, Stacheldrahtrollen und Waffen können nur vorübergehend Sicherheit gewähren, und das ist eine trügerische, furchterfüllte Sicherheit. Schlussendlich werden wir unsere Bunkermentalität aufgeben und verstehen, dass die einzige Sicherheit vom Geben kommt, vom Sich-öffnen und im Zentrum eines Flusses von Beziehungen zu sein, nicht davon, sich immer mehr anzueignen; Sicherheit kommt nicht von Unabhängigkeit, sondern von gegenseitiger Stützung. Die Überlebenden werden nicht jene sein, die sich in einer Festung zu isolieren suchen, sondern die, die in der Lage sind zu geben, zu helfen und zur Gemeinschaft beizutragen. Sie werden die Basis für eine neue Art Zivilisation bilden.

Unsere Krisen spitzen sich alle innerhalb einer zehn- bis zwanzigjährigen Zeitspanne zu, denn sie sind miteinander verbunden. Eine jede hilft die anderen zu beschleunigen, gerade da sie aus der selben, in diesem Buch beschriebenen Quelle herrühren. Wir können Vorboten dessen sehen, was auf uns zukommt, wenn Politiker Terrorismus als Vorwand benutzen, Bürgerrechte außer Kraft zu setzen und die Überwachung und Kontrolle persönlicher Aktivitäten zu intensivieren. In Asien geschah genau das während der SARS-Krise, wie es auch hier mit Notfallplänen bei Grippe oder Pockenepidemien vorkommen kann. Und historisch ist die Verbindung zwischen wirtschaftlichem Zusammenbruch und politischem Faschismus gut dokumentiert. Schon jetzt erzeugen Dürre und ökologische Zerstörung erste Flüchtlingswellen; stell dir die politische Instabilität vor, wenn die heute lokalen Katastrophen sich ballen und zu regionalem oder globalem Verfall anschwellen. Nationen befinden sich bereits jetzt wegen Öl im Krieg; stell dir die Konsequenzen von Kürzungen nicht nur bei Energie, sondern auch bei Nahrung und Wasser vor.

Das obige Untergangsszenario mag vom Ton her, wenn nicht im Detail, bekannt erscheinen, aber berücksichtige bitte, dass dies nicht nur das Ende sein wird, sondern auch ein Anfang, eine Geburtskrise, die uns in ein neues Zeitalter heben wird, das auf einer anderen Selbstwahrnehmung beruht. Das heißt nicht, wir könnten uns zurücklehnen und auf die Geburt warten. Trotz der Unvermeidlichkeit der sich anhäufenden Krisen sind die erfolglosen Abwendungsbemühungen der Generationen von Aktivisten von erheblicher Bedeutung. Wenn du eine solche Person bist, die der Hoffnungslosigkeit ins Auge blickt, um ungeheuer große Probleme anzupacken, sei dir gewiss, dass diese Arbeit nicht umsonst ist. Zwar stimmt es, dass keine Bemühung um erneuerbare Energie, Abwasserwiederverwertung, lokale Währungen, Feuchtgebietserhaltung oder Reformen irgendeines Aspekts der Gesellschaft die Katastrophe verhindern kann, doch diese Anstrengungen legen die Saat für die planetare Erneuerung, die nach dem Zusammenbruch des gegenwärtigen Regimes möglich wird, nachdem der Süchtige über der Verpulverung seines allerletzten technologischen Schusses zu Boden gegangen ist.

Die technischen Lösungen für nachhaltiges und harmonisches Leben gibt es bereits alle und gab es eigentlich schon immer. Was es braucht, ist ein Wandel des Bewusstseins, eine Neukonzeption unser selbst als Individuen und als Gattung, um die sich ausweitende Trennung und die sich vertiefende Trostlosigkeit der vergangenen Jahrtausende rückgängig zu machen; doch das wird paradoxerweise erst ihr Ergebnis sein.

Der Bewusstseinswandel, von dem ich spreche, ist nicht Ausdruck irgendeiner Sorte technologischer Innovation, noch besteht er auf einem Rückschritt auf technischer Ebene. Wenn er jedoch eintritt – und das ist bereits der Fall - werden selbstverständlich enorme technische Konsequenzen daraus erwachsen. Visionäre Menschen leisten heute, als Antwort auf die zunehmende Nutzlosigkeit alter Management- und Kontrollmethoden, mit solchen materiellen und sozialen Techniken Pionierarbeit. Dass ihre Erfindungen nicht in großem Maßstab angenommen werden, heißt bloß, dass der nötige Bewusstseinswandel sich erst manifestieren muss. Sie sind lediglich unvereinbar mit unserer heutigen Identität. Wir wissen bereits alles, was wir wissen müssen – es ist nur noch eine Sache des darin Hineinwachsens.

Die Mechanismen, über welche die Gesellschaft nachhaltige Technologien unterdrückt, basieren alle auf der selben Wahnvorstellung, die im Mittelpunkt dieses Buches steht: das eigenständige und getrennte Selbst. In der Ökonomie zeigt sich dieser Wahn in Zinsen und dem Kosten-Outsourcing. Diese wiederum stellen ein unüberwindliches Hindernis für Prozesse dar, die auf zyklischem Fluss basieren. In der Wissenschaft macht uns derselbe Wahn für andere Vorstellungen blind, was möglich und machbar ist und errichtet Barrieren gegen die Akzeptanz neuer Einsichten und Technologien. In der Medizin bindet er die Forschung an die alte „Wir gegen die“-Mentalität, die grundlegend unfähig ist, mit den neuen Autoimmunerkrankungen zurechtzukommen und andere Behandlungsmethoden als unwissenschaftlich abstempelt. In den Bereichen Politik, Recht und Bildung haben wir ebenfalls gesehen, wie das Kontrollparadigma Lösungen verhindert, die nicht die Ordnung, Nummerierung, Normierung und Kontrolle der Welt ausbauen.

Die Tatsache, dass das Regime der Trennung neue Höhen zu erklimmen scheint, die Tatsache, dass der gesamte Globus in den Griff der Monetarisierung des Lebens und der Umwandlung von Beziehungen in Güter fällt, die Tatsache, dass die Nummerierung, Etikettierung und Kontrolle der Welt und aller Dinge darin nie dagewesene Extreme erreicht, heißt nicht, dass die Aussichten auf eine schönere Welt in die Ferne rücken. Wie eine Welle, die auf die Küste zurollt, wird das Zeitalter der Trennung sich bis zu seinem Maximum aufblähen, sogar noch während es sich im Moment vor dem Zusammenbruch aushöhlt. Dieser Zusammenbruch, seit Äonen unvermeidlich, kommt heute über uns. Was die Welt angeht, die wir danach errichten können, so sehen wir Ausschnitte davon in den „Alternativen“, die heute mit so wenig Wirkung präsentiert werden.

Das gegenwärtige Zusammentreffen von Krisen ist vor Jahrtausenden in die Zukunft geschrieben worden. Sie ist die unvermeidliche Zuspitzung einer Trennung, die in der tiefen Vergangenheit begonnen hat und die, einmal in Gang gesetzt, nichts anderes tun kann, als auf sich selbst aufzubauen. Von exakt dem Moment an, als wir uns selbst von der Natur getrennt gesehen haben, war unser Schicksal besiegelt. Während der drohende Zusammenbruch heute nur zu deutlich sichtbar ist, war er vor Jahrhunderten oder Jahrtausenden viel schwerer vorherzusagen, als die Welt noch immer groß war und wir noch immer wenige waren und man den Folgen der Behandlung der Welt als das Andere leicht ausweichen konnte. Dennoch haben aufmerksame Personen durch die gesamte Geschichte hindurch die Zeichen an der Wand gesehen, das unvermeidliche Ziel, auf das unser Selbst- und Weltbild uns zutreibt. Vor langer Zeit sahen sie die ersten Regungen einer aufziehenden Katastrophe, eingeschrieben in unser Sein, und sie verfassten ihre Einsichten in der Sprache der Mythen und Metaphern.

Manche ihrer Metaphern sind ziemlich augenfällig. Heuschreckenplagen symbolisieren die aus dem Gleichgewicht geratende Ökologie; um sich greifende Geschwüre symbolisieren die Krankheiten, die wir über uns selbst gebracht haben. Kriege und Kriegsgerüchte. Die Hure Babylon steht für die Käuflichkeit von Sexualität, aber auch die Prostituierung des Heiligen allgemein. Die Prophezeiungen vom Ende der Welt, die in der amerikanischen Christenheit heute so populär sind, berühren eine authentische Erkenntnis, mit Ausnahme der Idee, dass die Erlösung von außen kommen soll. Sie stellen sich Jesus vor, wie er vom Himmel herabsteigt, um die wahren Gläubigen, in verzückter Flucht aus der von uns ruinierten Welt, mit sich zu nehmen. Dieser Gedankengang läuft exakt parallel zu denen der Techno-Utopisten. Nur die Identität ihres Gottes ist verschieden.

Das selbe Bewusstwerden der sich aufstauenden Krise zeigt sich in der Massengesellschaft unterschwellig als eine alles durchdringende Furcht. In guten Zeiten ist sie subtil, aber selbst die besten Zeiten können nicht die Hintergrundangst zerstreuen, welche die Höhen und Tiefen von Leben und Geschäftigkeit durchflutet – genau dieselbe Furcht, die in unsere Wissenschaft eingebettet ist und das Technologische Programm vorantreibt. Weil sie unsere gesamte Kultur durchzieht, befeuert Furcht den für uns bezeichnenden Kontrollzwang.

Dementsprechend haben Menschen seit tausenden von Jahren das Ende der Welt vorhergesagt – und das bald! Obwohl die regelmäßige Verschiebung des Jüngsten Tages an ihrer Vertrauenswürdigkeit nagt, kommt die zugrundeliegende psychische Energie der Verrückten, die auf dem Times Square Plakate hochhalten, aus einer realen Quelle. Sie berühren eine wahre Erkenntnis: Das Gebäude der Zivilisation hat einen unheilbaren strukturellen Fehler, der seinen letztendlichen Zusammenbruch bestimmt. Wir sind auf Kollisionskurs mit der Natur und mit der menschlichen Natur.

Diese lange chiliastische Tradition, die bis auf die Urheber von Mythen wie Armageddon und Ragnarök zurückgeht – den Kampf am Ende der Welt – hat durchweg unterschätzt, wie weit die Trennung gehen kann, die erreichbare Tiefe der Entfremdung und die Fähigkeit der Kontrolltechnologien, das kippende Zivilisationsgebäude zu flicken und zu stützen. Und vielleicht bin auch ich zu früh dran: Vielleicht werden wir weiterhin die ausufernden Folgen der bisherigen Technologie bewältigen; vielleicht wird das verrückte Gerangel um die Ersetzung der verlorenen Funktionen des Ökosystems, der Politik und des Körpers noch für lange Zeit erfolgreich sein; und vielleicht werden wir bisher unvorstellbare neue Bereiche sozialen, natürlichen, kulturellen und spirituellen Kapitals finden, um den Motor unaufhörlichen Wachstums zu befeuern.

Vielleicht. Für einige Zeit. Doch auch wenn wir eine Möglichkeit finden, die drohende Krisenzuspitzung für ein weiteres Jahrhundert aufzuhalten, behält alles, was ich hier erzähle, seine Gültigkeit.

Bemerkenswerterweise hatten diese Weltuntergangsmythen auch gemeinsam, dass das Ende nicht das der Welt an sich sei, sondern der Welt wie wir sie kennen. Manche beschrieben sogar eine Vision dessen, was danach kommen sollte. Die Welt danach wie auch die Weltuntergangsschlacht projizieren sich als Intuitionen und Mythen in das kollektive Unterbewusste. Ganz tief unten wissen wir alle, dass eine bessere Welt möglich ist, und mehr als möglich: sicher eines Tages. Schlussendlich ist es dieses Wissen und nicht die Ideologie des Technologischen Programms, die den Mythos „Heißa, die Zukunft!“ hervorbringt, mit dem ich dieses Buch eröffnet habe. Die Ideologie des Technologischen Programms verwendet diese intuitiv erfasste Zukunft ebenfalls, indem sie behauptet, diese werde durch mehr vom Selben hervorgebracht statt durch ihr eigenes Scheitern.

Das selbe Wissen eröffnet sich auch in dem uralten Mythos vom Himmel, der, obwohl unter dem Regime des Dualismus als von der Erde getrennter Bereich idealisiert und abstrahiert, nichtsdestoweniger auf einer metaphorischen Ebene auf die Notwendigkeit des Endes des Lebens, wie wir es kennen, hinweist. Die Eintrittsprozedur in den Himmel enthält sogar eine Art Transzendenz des herkömmlichen Selbst, ein Loslassen der alten Daseinsweisen; wie die christliche Redewendung es ausdrückt: in Christus wiedergeboren werden. Gleichermaßen kann der herrliche Zustand, in den die Menschheit nach der Konvergenz aufsteigen mag, erst nach dem Zusammenbruch unserer kollektiven Selbstdefinition, nämlich als getrennt von der Natur und von den Naturgesetzen ausgenommen, kommen.

Die utopischen Visionen, die das ganze moderne Zeitalter hindurch wiederkehrten, sind mehr als Techno-Propaganda; sie gehören gleichfalls zu jener universellen Gewissheit, dass eine weitaus schönere Welt möglich ist als die von uns heute geschaffene. Wie das Wort Utopia andeutet, das wörtlich übersetzt „Kein Ort“ heißt1, können wir solch eine Welt niemals mit der Art Bemühungen erreichen, die uns dahin gebracht hat, wo wir heute sind. Utopia wird nicht mit besserer Wissenschaft, präziserer Technologie, feinerer Kontrolle über die innere oder äußere Wirklichkeit erreicht. Es wird nicht geschehen, weil wir uns mehr bemühen, gut zu sein, und auch nicht durch bessere Steuerung der Natur oder der menschlichen Natur. Genau im Gegenteil. Die von uns geschaffene Hölle hat ihren Ursprung im Programm zur Objektivierung und Kontrolle der Natur. Nur duch die Überwindung dieses Programms und des einhergehenden Selbstbildes können wir hoffen, etwas anderes als eine weitere Intensivierung dessen zu schaffen, was wir heute haben.

Parallel zu den Weltuntergangsprophezeiungen zum Milleniumswechsel haben sich auch die New Age-Ankündigungen vom aufziehenden Zeitalter des Wassermanns als voreilig erwiesen. Aber das heißt nicht, dass diese Visionen falsch sind. Die 60er-Jahre-Hippies, die ohne jeden Zweifel wussten, dass in zehn Jahren Krieg, Geld, Gesetze, Schulen usw. überholt sein würden, haben eine wahre Zukunft, eine wahre Unvermeidlichkeit gesehen, die nicht durch die Tatsache entwertet wird, dass die meisten von ihnen später Zahnärzte wurden. Als mein Bruder sich einmal in die Schlange vor dem Kraftfahrzeugamt stellte, meinte der ex-Hippie hinter ihm: „Mann, wir hatten das alles schon hinter uns gelassen. In den 60ern hatten wir mit Warteschlangen und Formularen und Ausweisen abgeschlossen.“ Für die Hippies schien es offensichtlich, dass all diese Institutionen veraltet waren, dass sie im Licht des den Planeten schnell ereilenden Bewusstseins verschwinden würden. Ein paar Jahre wären alles, was es brauchte.

Die Hippies hatten nicht unrecht. Tatsächlich manifestierte sich das Ende der alten Zivilisation subjektiv in ihrer eigenen Lebenszeit, als sie aus der Matrix herausfielen. Einige leben heute noch immer in Nischen unserer Gesellschaft, fast unsichtbar, und weder Geld noch Gesetze oder Krieg gehören zu ihrem Erfahrungsbereich. Sie sind den taoistischen Unsterblichen der chinesischen Legende verwandt, die aus der normalen Gesellschaft in die fernen Berge entschwinden, unsichtbar für jeden, der den üblichen kulturellen Scheuklappen unterworfen ist, und die sich so selten als möglich in menschliche Angelegenheiten mischen. Für den Rest, jene, die sich von ihren Visionen getrennt haben, um Zahnärzte und Anwälte zu werden, bleibt die Zukunft, die sie mit solch zwingender Klarheit gesehen haben, eben das: eine Zukunft. Was sie sahen, war wahr; nur ihre zeitliche Einordnung der Vision lag daneben.

Es ist eine unabwendbare Zukunft, ja, aber paradoxerweise gleichfalls eine, die wir fähig sind, unbegrenzt aufzuschieben, bis zu dem Tag, wenn der allerletzte Rest an Schönheit aufgebraucht ist.

Für viele Menschen hat die Zuspitzung der Krisen bereits stattgefunden und sie wie die Hippies oder die taoistischen Unsterblichen von den kontrollierten, gebundenen, getrennten Auffassungen vom Selbst fortgetrieben, weg von den Technologien der Trennung und hin zu einem neuen Geld-, Bildungs-, Technik-, Gesundheits- und Sprachsystem. Auf verschiedenste Weisen ziehen sie sich aus dem System der Maschine zurück. Wenn Krisen sich zuspitzen, ergibt das normale Leben keinen Sinn mehr und öffnet den Weg für eine Wiedergeburt, eine spirituelle Wandlung. Mystiker aller Zeitalter haben erkannt, dass der Himmel nicht ein ferner, getrennter Bereich ist, der am Ende des Lebens und der Zeit liegt, sondern stets erreichbar ist und das normale Dasein durchdringt. Wie Jesus es ausdrückte: „Das Königreich des Vaters ist in uns und unter uns.“ Das ist die esoterische Bedeutung, die Matthew Fox der Wiederkehr Christi zuschreibt: nicht ein einzelnes, beschreibbares Ereignis in der objektiven Zeit, sondern die Gesamtsumme all unseren vorübergehend getrennten, ruckhaften, doch unaufhaltsamen Erwachens zu erlösendem Bewusstsein.2 Das Besondere an unserer Zeit ist, dass die Vollendung von Trennungsprozessen auf kollektiver Ebene diese persönliche Zuspitzung der Krisen erzeugt und dass das darauf folgende Erwachen zu einer neuen Selbstwahrnehmung vielen Menschen gleichzeitig widerfährt.

Das Versprechen der Wiederherstellung eines seit langem verlorenen Goldenen Zeitalters hallt in zahllosen Mythen nach. Die Saite, die das in uns zum Klingen bringt, hat Visionäre und Idealisten seit jeher inspiriert und erklärt die unstillbare Hoffnung, die, wie das Sprichwort sagt, ewig der menschlichen Brust entspringt. Auch befeuert es ein gesundes Missbehagen – die andere Seite moderner Furcht – das sich weigert zu glauben, dass dies das beste ist, was wir tun können. Es ist eine Entrüstung, eine stumme Empörung, die man vorübergehend durch Annehmlichkeiten und Luxus mildern kann, die man vorübergehend durch Existenzangst unterdrücken kann, die stets bei den Jungen am stärksten vorhanden ist und die in uns allen schlummert, stets bereit, in kämpferischem Idealismus auszubrechen, doch häufig zur Bewahrung der Zustände missbraucht wird, die sie erzeugen. Meine Aufgabe, lieber Leser, ist es, deiner Empörung eine Stimme zu geben und dein intuitives Wissen wieder zu bestärken, dass das Leben mehr sein sollte. Ich schließe mit einer lyrischen Beschreibung des verlorenen und zukünftigen Goldenen Zeitalters des visionären Cartoonisten Patrick Farley:

Könnten du oder ich glauben dass – trotz all unserer großen Bemühungen das Gegenteil sicherzustellen – unsere Nachkommen schließlich eine Lebensweise finden werden, ohne einander zu schaden?
Könnten du oder ich glauben, wie phantastisch wohlhabend sie alle sein würden?
Könnten du oder ich auch nur für einen Augenblick verstehen, wie heftig meine Urenkeltochter und ihre Freunde das Leben lieben würden und dass diese Liebe nicht eine schwindende Laune wäre, sondern eine nicht endende Kraft, die jeden Moment des Schlafens und Wachens in ihrem Leben durchdringt?
Könnten du oder ich das glauben? Könnten wir es ertragen, das zu glauben?3

Dieses Kapitel wird die Technologien – soziale Erscheinungen und auch Produktionsmodelle – einer Zukunft der Liebe zum Leben beschreiben, welche die Liebe zum eigenen Leben ebenso einschließt wie die Liebe zu anderen Lebewesen. Sie alle kommen von, und verkörpern auch, eine andere Auffassung vom Selbst und der Welt. So wie heutige soziale Erscheinungen und Technologien beide aus der Trennung entstehen und sie verstärken, werden wir sehen, wie die Technologie des 21. Jahrhunderts sowohl Ursache als auch Wirkung der Umkehrung der Trennung sein wird – ein völlig anderes Verständnis des Universums, das sich auf jeder Ebene von der Psychologie bis zur Kosmologie äußern wird. Ich werde nun meine Vision davon teilen, wie die vielversprechendsten sozialen und Produktions-Technologien von heute schließlich in voller Blüte aussehen könnten, wenn die heute sprießenden Saaten die Chance erhalten, im Zeitalter der Wiedervereinigung (und in es hinein) zu gedeihen. Während sich unsere Krisen intensivieren, werden wir neuen Optionen und Möglichkeiten begegnen. Hoffentlich erkennen wir die volle Auswirkung und die ganze Kraft der Wahlmöglichkeiten, die sich uns bald bieten werden.

1 Die Wurzel ist nicht das griechische eu-, was „gut“ heißt, sondern ou-, also „nicht“

2 Matthew Fox: The Coming of the Cosmic Christ, HarperSanFrancisco, 1988.

3 Patrick Farley: Chrysalis Colossus, www.e-sheep.com/chrysalis

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1998-2011 Charles Eisenstein