Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein

Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters

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Inhaltsverzeichnis:


Gaias Gebären

Die sich häufende Zerstörung, Leid und Katastrophen der letzten Jahrtausende und speziell der letzten paar Jahrhunderte sind Geburtswehen der menschlichen Rasse, die in eine neue Art Beziehung zum Universum geboren wird. Wenn wir geboren werden, so stellt sich die Frage, wer uns gebärt.

Die intuitive Antwort ist natürlich Mutter Erde, oder sogar Mutter Universum. Es spielt keine Rolle, dass die Geburtswehen offensichtlich menschlichen Ursprungs sind. Sie sind unausweichliche Begleiter einer Trennung, die selbst unvermeidlich in das biologische Gewebe eingesponnen ist. Die Trennung war kein Wendepunkt, keine einzelne falsche Bewegung wie in der Eden-Geschichte, sondern ein kumulativer Prozess, der in vormenschlicher Zeit, sogar vorbiologischer Zeit begann. Die Natur, das Universum, sogar mathematische Systeme tendieren zu zunehmend komplexer Ordnung und, was noch wichtiger ist, Organisation, die eine Rollentrennung mit sich bringt, eine Abschnürung semi-autonomer Individuen, die wir als Lebensformen kennen. Mit anderen Worten: Die gegenwärtige Zuspitzung der Krisen rührt von Ursprüngen jenseits des Menschen her und ist vielleicht sogar evolutionär unabwendbar.

Ist die Komplexitätszunahme vom Bakterium zur Zelle mit Zellkern, zum Vielzeller, zum menschlichen Hirn, zum Stamm, zur landwirtschaftlichen Zivilisation, zur Industriewirtschaft zur Noosphäre bloß die Folge einer Reihe glücklicher Zufälle? Ich habe erläutert, wieso eine negative Antwort auf diese Frage nicht zwangsläufig den Eingriff eines externen Schöpfergottes bedingt; nicht, wenn Bestimmung Teil des Universums ist. Aber drücken wir es einmal poetisch aus. Erkunden wir stattdessen die Idee, dass das Universum, und besonders die Erde, von Anfang an mit Leben, mit Intelligenz, mit Zivilisation, mit dem gesamten Ablauf von Trennung und Wiedervereinigung schwanger ging.

Findet es außer mir noch jemand seltsam, dass die Rohstoffe für Technologie so leicht verfügbar sind? Dass Metalle so reichhaltig nahe der Erdoberfläche lagern? Dass domestizierbare, für die Landwirtschaft nutzbare Tiere und Pflanzen so leicht erreichbar sind? Dass die Erde umfangreiche fossile Brennstofflager verfügbar hat, die eine industrielle Revolution möglich machen? Was ist mit der Tatsache, dass viele Gene, die erst in höheren Tieren zum Ausdruck gelangten, bereits hunderte von Millionen Jahren im Genom vorhanden waren, bevor sie gebraucht wurden, als ob sie auf den richtigen Zeitpunkt zur Ausübung ihrer Funktionen gewartet hätten? Solange wir es nicht besser wissen, dürfen wir glauben, dass die Gesamtheit der biologischen und nicht-biologischen Prozesse der Erde, die wir Gaia nennen, bewusst einen Plan ausführten, um eine technologische Spezies ins Dasein zu rufen.

In Kapitel VI habe ich darüber spekuliert, dass das irdische Leben zwei Elternteile besitzt: Erde und Himmel; dass die Urwelt ein fruchtbarer, von genetischem Material aus dem All besamter Schoß war. Manche glauben, dass dieses Material ein verschlüsseltes Programm zur Entstehung einer technologischen Zivilisation enthielt: ein Kohle produzierendes Zeitalter zur Erzeugung von Öl- und Kohlelagern; intelligente Lebensformen, die sie benutzen. Da die Manipulations- und Kontrollmentalität – das Distanzieren von der Natur – ein untrennbarer Aspekt unseres Aufstiegs als technologische Spezies ist, können wir auch behaupten, dass die gegenwärtig extreme Getrenntheit Teil desselben Programms ist.

Mit welchem Ziel? Vielleicht wird die Technik in eine Art Raumreise kulminieren, mit der wir biologische Materie weiter über das Universum verteilen und Gaias Fortpflanzung ausführen. Gaia, so könnte man sagen, wird aussäen und dabei ihre allerletzten Ressourcen in Herstellung und Verbreitung des Samens stecken. Einer der Hauptkritikpunkte der Gaia-Theorie lautet, dass natürliche Auslese nicht mit einem ganzen Planeten funktionieren kann, weil dieser keine Konkurrenten hat. Aber vielleicht stimmt das nicht; vielleicht konkurrieren Planeten (oder genauer: Biosphären) ebenfalls und pflanzen sich fort, aber in weit größerem Rahmen und Zeiträumen.

Was geschieht, wenn ein Planet ausgesät hat? Wenn er einjährig ist, stirbt er; ist er ausdauernd, begibt er sich in eine Schlaf- oder Ruhephase. Ist unsere gegenwärtige Plünderung des Planeten Erde ein Mechanismus zur Mobilmachung jeglicher Ressourcen für die Fortpflanzung? Ist sie ein Vergiften des Mutterleibs, die uns motivieren wird, etwas anderes zu suchen? Ich glaube nicht. Die Geburt, die wir durchlaufen, ist etwas viel größeres als die bloße Vervielfältigung des selben Musters an einem anderen Ort und zu anderer Zeit. Wenn unser Planet zugrunde geht – ob wir nun genetisches Material, lebende Organismen oder sogar menschliche Kolonien ins All schicken oder nicht – dann würde ich das als Abbruch, als Totgeburt betrachten.

In der Umweltbewegung, der Friedensbewegung, der ganzheitlichen Medizin sowie in der Erziehung, Informationstechnik, Psychologie und so weiter haben wir ein Bild davon, was der Menschheit begegnen könnte; das in diesem Buch beschriebene Zeitalter der Wiedervereinigung. Es gibt aber auch die Möglichkeit einer Totgeburt. Vielleicht ist das bereits einmal geschehen. Vielleicht enthalten die Mythen von Atlantis und Babylon einen Kern historischer Wahrheit. Vielleicht gab es eine Flut, die von einem Neuanfang gefolgt war. Manchmal frage ich mich: Was würden wir tun, wenn ein völliger Zusammenbruch bevorstünde? Wenn wir wüssten, dass jede geschriebene Überlieferung, vielleicht jedes physische Zeichen unserer Zivilisation untergeht, wie würden wir unser Wissen der Zukunft übermitteln? Der einzige Weg wäre, es in Mythen zu verpacken, heilige Geschichten, die wichtige Informationen enthalten, welche uns in ein zukünftiges Zeitalter führen. Vielleicht ist dort eine Weisheit versteckt, die uns davon abhalten kann, nochmals tot geboren zu werden.

Wahrscheinlicher ist, dass die alten Mythen und Legenden (Atlantis, die Sintflut) psychologische und nicht historische Wahrheiten enthalten. Atlantis beispielsweise steht für eine verschüttete höhere Fähigkeit: einmal erahnt, nun verloren, doch immer noch möglich in unserer Zukunft. Die Mythenerzähler des Altertums berührten eine große Weisheit, als sie die unvermeidliche Tragik des „Aufstiegs“ der Menschheit zur Trennung vorhersahen, und auch die Möglichkeit, dass etwas Größeres aus ihrer Asche geboren werden könnte: das auf Armageddon folgende Königreich Gottes; die auf Ragnarök folgende Erneuerung von Himmel und Erde.

Das Fortschreiten sozialen und ökologischen Verfalls ist schon vor langer Zeit in die Zukunft eingeschrieben worden, früh im Morgengrauen der Trennung. Diese hat eine Reihe von Quantensprüngen vollzogen: mit der Stein- und Feuertechnologie, dann wieder mit der Landwirtschaft und nochmals mit moderner Wissenschaft und Technologie. Während die katastrophalen Folgen der Trennung heute vielen Menschen klar sind, war das in der Vergangenheit nicht so offensichtlich, als noch große Mengen sozialen, natürlichen, kulturellen und spirituellen Kapitals auszubeuten waren und das Desaster erst in Vorbereitung war. Wer konnte sich beim Bau des ersten Kornspeichers in Mesopotamien und des ersten abgeholzten Waldes in Sumer vorstellen, wohin das alles führen würde?

Und doch gab es stets Visionäre, die gesehen haben, wohin unsere Trennung vom Selbst, der Natur und dem Anderen unweigerlich führen würde. Vor Jahrhunderten, Jahrtausenden wiesen sie dringend in die andere Richtung, sogar als sie die Unvermeidlichkeit der noch heranreifenden Katastrophe erkannten. Sie alle taten ihr Bestes, uns Botschaften, Schlüssel und Hinweise zu hinterlassen, dass es eine andere Möglichkeit gibt; nicht so sehr, um das Blatt der Geschichte zu wenden, sondern um uns zu lehren, wie wir nach dem Zusammenbruch unserer unhaltbaren Geschichte vom Selbst weitermachen können. Ihre Botschaft handelt von Transzendenz: Der Überwindung des begrenzten, begrenzenden und trügerischen, getrennten Selbst unserer gegenwärtigen Wissenschaft, Religion, Wirtschaft, Medizin und Psychologie.

Sie sandten ihre Botschaften auf verschiedenen Wegen und mit allen Mitteln, die ihnen zur Übermittlung durch die Zeiten nützlich erschienen. Manche von ihnen, so wie Jesus von Nazareth, hatten das Pech, dass man eine Religion um sie herum aufbaute, die ihre Botschaften genau der ursprünglichen Absicht entgegengesetzt verdrehte. Und doch liegt die ursprüngliche Bedeutung oft noch immer in jenen Worten verborgen, die uns erhalten blieben.

Weit mehr dieser Lehrer gerieten schnell wieder in Vergessenheit. Wir werden ihre Namen nie kennen, aber ihre Botschaften überlebten auf so manche Weise. Manche kommunizierten mit der Zukunft, indem sie Mythen und Legenden, Gedichte und Lieder, Tänze und Rituale zur Entschlüsselung durch empfängliche Menschen schufen oder oft auch eine Saat ins Unterbewusstsein des Hörers oder des ausübenden Künstlers pflanzten. Selbst wenn niemand die Logik eines solchen Rituals erklären kann, ist jeder, der es aufführt, von einem Wissen gewandelt, angeregt, befruchtet, das erst viel später von Verstehen gefolgt wird, wenn die Zeit reif ist.

Wieder andere kommunizierten durch direkte, persönliche Weitergabe an ihre Schüler mit der Zukunft. Als sie die Aussichtslosigkeit sahen, den Trennungsvirus aufzuhalten, bevor er alles infiziert hatte, und als sie vielleicht auch den bevorstehenden Untergang ihrer eigenen Kulturen durch die Hand eindringender Bauern sahen, gründeten sie Erblinien und versteckten sie in den Zerstörerkulturen selbst. Dieser Prozess begann womöglich mit den Neanderthalern, wie die Yurok-Geschichte der Wo’gey aus Kapitel II andeutet. Wissen wurde von Person zu Person, von Generation zu Generation weitergegeben: Zen-Meister, Sufis, Schamanen, christliche Mystiker, Kabbalisten, Taoisten, Yogis, Zauberer und andere Personen versteckten de Botschaft in den Volksreligionen oder hielten sie völlig verborgen, bis die Zeit für ihr Erblühen reif war. Diese Zeit ist heute, und es ist kein Zufall, dass viele dieser früher geheimen Traditionen nun ihr Wissen öffentlich machen, so gut sie können.6

Manche Science-Fiction-Autoren haben den nächsten Schritt der menschlichen Evolution als kollektiven Übergang auf eine höhere Organisationsstufe beschrieben. So wie ein Termitenhügel eine Individualität und ein Empfindungsvermögen besitzt, die jede einzelne Termite transzendieren, und so wie die Intelligenz des Gehirns durch das koordinierte Handeln von Milliarden Neuronen entsteht, so könnte auch eine Intelligenz der gesamten Art aus der engeren und schnelleren Verbindung einzelner menschlicher Intelligenzen entstehen. Vernor Vinge hat eine Zukunft beschrieben, in der Menschen ihre Geistes- und Erinnerungsfähigkeiten mit Computerteilen erweitern, welche Gedankengänge leichter von Person zu Person übertragbar machen, was in einem Überverstand resultiert.7 Genau wie ein Organismus aus der koordinierten Aktivität von Milliarden Zellen entsteht, so könnte eine neue metahumane Einheit aus der koordinierten Aktivität von Milliarden Menschen entstehen, besonders, wenn ihre Kommunikation so schnell abläuft, wie die hormonelle und bioelektrische Kommunikation im Körper. Man könnte dann Gaia als Gebärerin einer kollektiven menschlichen Einheit sehen, deren embryonischen Organe sich mit der Arbeitsteilung der ersten Baumeistergesellschaften auszudifferenzieren begannen und deren Informationsverarbeitungsfähigkeiten im Internetzeitalter nun endlich Gedankenschnelle erreicht haben.

Vernor Vinge und verwandte Denker sind fest in der „Heißa, die Zukunft!“-Ideologie technologischen Fortschritts verankert. Dennoch wurzeln ihre Technowunder-Szenarios letztlich in der zutreffenden Ahnung der Transzendenz in nicht allzu ferner Zukunft. Ihr Fehler ist nur, dass sie annehmen, diese kollektive Transzendenz könne ohne eine dem entsprechende gleichzeitige Transzendenz auf individueller Ebene eintreten. Welcher Organismus könnte überleben, dessen Zellen glauben, sie stünden in dauerndem Wettbewerb mit einander und im Krieg mit der Umwelt (dem Körper) im Kampf um Ressourcen – ohne Lebenszweck und -bedeutung jenseits ihrer eigenen Vermehrung? Es ist eine ziemlich gute Beschreibung von Krebszellen. Nein, in einem gesunden Organismus streben die Zellen nach der Perfektionierung und Erfüllung ihrer Rolle. Ist das nicht das selbe, was ich für uns Menschen vertrete? Als Individuen mit dem Geist des Geschenks und der Verschmelzung von Arbeit und Kunst? Als Kollektiv mit der Nutzung von Wissenschaft zum besseren Verständnis und Technik zur besseren Erfüllung unserer Rolle und Funktion in der Natur? Diese Rolle und Funktion entwickelt sich mit der Weiterentwicklung der Natur auf ein höheres Komplexitäts- und Organisationsniveau; daher ist sie nicht passiv oder statisch. Doch es zeugt von Demut, teilzuhaben statt zu unterjochen und zu begrüßen statt zu kontrollieren.

Das Organismus-Modell menschlicher Gesellschaften ist oft als Rechtfertigung im Faschismus benutzt worden, als Erhebung der Körperschaft über Rechte, Bedürfnisse und Wohlergehen des Einzelnen. Die faschistische Interpretation ist jedoch selbst ein Produkt tief mechanistischer Annahmen bezüglich Biologie und Gesellschaft. Denn tatsächlich haben die spezialisierten Zellen des Körpers wenig Ähnlichkeit mit spezialisierten Arbeitern eines hierarchischen Fabriksystems. Neuere Fortschritte in der Genetik und Neurologie, die in Kapitel VI angesprochen wurden, haben das morphologische Top-Down-Modell für alle Zeiten entlarvt. Es gibt keine Zentralautorität, welche die Entwicklung und Funktion jeder Zelle steuert. Natürlich reagiert jede Zelle auf Umweltsignale, aber die Klugheit der Umwelt ist eine emergente Eigenschaft und nicht bei einer befehlenden Zentralautorität angesiedelt oder in eine Ansammlung von Genen einprogrammiert. Außerdem reagiert jeder Zelltyp auf seine eigene Weise auf das Meer von Hormonen, elektrischen Feldern und anderen Kommunikationsmedien. Selbst innerhalb eines bestimmten Zelltyps reagieren Zellen entsprechend ihrer Lage und unbekannter anderer Faktoren individuell. Sicherlich will keine von ihnen Ressourcen für sich selbst horten. Wie Jäger und Sammler, die keine Nahrungsmittel aufbewahren, vertrauen sie auf die fortgesetzte Lieferung lebenserhaltenden Zuckers und Sauerstoffs. Auch maximieren Zellen nicht ihren Eigennutz auf Kosten der anderen – außer sie sind Krebszellen. Deshalb wurden wir Menschen vom Agenten Smith als „das Geschwür dieses Planeten“ bezeichnet.8

Doch der Zwang zu endlosem Wachstum gründet genau wie die Kampagne zur Maximierung von Mir und Meinem und wie das Programm zur Kontrolle der Welt auf einer Illusion: dem eigenständigen und getrennten Selbst. Nun, da die Illusion bröckelt, ihre wissenschaftlichen Fundamente zerfallen und ihre Konsequenzen uns zerstören, wird eine neue Art von Gesellschaft möglich, die so gut abgestimmt ist wie ein gesunder vielzelliger Organismus und so individuell schöpferisch, erfüllend und zielbewusst wie das Leben eines Jägers und Sammlers.

Unsere Transzendenz dessen, was wir gewesen sind, ist somit auf die individuelle Transzendenz dessen gegründet, was wir dachten, wer wir seien. Und mit einer wunderschönen und notwendigen Synchronizität wird es die selbe Zuspitzung der Krisen sein, die beides hervorbringt. Die individuelle Transzendenz, von der ich hier spreche, ist das spirituelle Erwachen, das sehr häufig beim Einbruch großer Tragödien und Übergangsphasen in unserem Leben geschieht. Normalerweise folgt es dem Geburtsmodell, dem im vorigen Abschnitt beschriebenen Muster. Das plötzliche Ereignis beschleunigt lediglich einen langen Geburtsprozess.

In uns allen schlummert das Potential für Transzendenz, aber in unserer Gesellschaft darf es sich nur selten entwickeln. Tatsächlich wird ihm geradezu vorsätzlich Einhalt geboten – von Bildungsstrukturen, Religion und dem „Kampf ums Überleben“, der das Erwachsensein in der modernen Welt bestimmt. Das individuelle Festgehaltensein in diesem Entwicklungsstadium zeigt verblüffende Ähnlichkeit mit dem der gesamten Menschheit. Joseph Chilton Pearce beschreibt das natürliche Fortschreiten menschlicher Entwicklung in seinem Buch Evolution’s End and The Biology of Transcendence. Das wachsende Kind durchläuft mehrere Entwicklungsstadien – konkrete Operationen, formale Operationen und so fort – von denen jedes mit einem Hirnentwicklungsstadium korrespondiert. Bis zur frühen Jugend entwickelt sich jeder einzelne Teil des Kinderhirns – das reptilische Vorderhirn, das limbische System und die Großhirnrinde – bis es beim frühen Teenager in der Entwicklung des rationalen, analytischen Verstands gipfelt, den wir als höchste Form der Erkenntnisfähigkeit erachten.

Doch Pierce argumentiert zwingend, dass es während der späten Teenagerjahre eine weitere Phase der Gehirnorganisation geben müsste, die mit dem präfrontalen Cortex zusammenhängt. Dessen Funktion ist für die herkömmliche Wissenschaft weitgehend ein Rätsel. Und auch die neurologische Rolle des Herzens wird von der herkömmlichen Wissenschaft weitgehend ignoriert. Pierce verknüpft diese Entwicklungen mit intuitiven, holistischen, transpersonalen Erkenntnisfunktionen, denen unsere Gesellschaft überhaupt keinen Wert beimisst oder die sie für ungültig erklärt. Wie könnten wir ihnen auch Gültigkeit zugestehen, wo sie doch mit Grundannahmen über das Selbst und die Welt kollidieren? Wie bei vielen Lernvorgängen entwickeln Jugendliche diese Funktionen durch Nachahmung; allerdings gibt es nur wenige Vorbilder. Wie kann man eine Fähigkeit entwickeln, von der die allgegenwärtige Ideologie behauptet, sie existiere nicht und für die es kein Rollenmodell gibt?

Vereinfacht ausgedrückt müssten Menschen empathische, holistische, transpersonale Erkenntnisfunktionen entwickeln, Fähigkeiten, die das Dogma vom eigenständigen und getrennten Selbst verletzen. Primitive Gesellschaften akzeptierten diese Fähigkeiten und förderten ihre Entwicklung. Sie lieferten sowohl Vorbilder als auch Methoden zur Transzendierung des begrenzten rationalen Ego-Selbst des Kindes. Dies war bei vielen Volljährigkeitsriten der Augenblick, in dem die Grenzen des Teenager-Egos kurzzeitig mit Mitteln wie psychotropen Pflanzen, Nahrungs-, Wasser- oder Schlafentzug, Isolation, Schmerz oder intensive Ritualerfahrungen erschüttert wurden. Wenn sie danach zum Stamm zurückkehrten, hatten die jungen Männer und Frauen (nicht länger Kinder) eine teifgreifend andere Vorstellung vom Selbst. Nicht zufällig enthalten viele dieser Zeremonien rituelle Nachstellungen des Geburtsprozesses.

Das im Cartesischen – getrennten und von allen und allem anderen verschiedenen –Selbst enthaltene rationale, analytische, objektive Weltbild ist eine notwendige und dazugehörende Phase menschlicher Entwicklung. Es ist jedoch eine Phase, welche die Bühne für eine weitere Phase bereitet, die wir normalerweise nicht mehr erleben. Deshalb bleiben wir in fortgesetzter Jugend stecken und warten unser ganzes Leben auf ein bedeutsames Ereignis, das nie eintritt. Joseph Chilton Pearce drückte es passend aus:

„Was jenes ’es’ ist, das in diesem Alter passieren soll, bleibt ein Geheimnis. Denn obwohl es wie Thomas Wolfes ’platzende Weintraube im Hals’ steckenbleibt, tritt es nie ein. George Leonard sprach von einem peinigenden Verlangen, so heftig, dass ihm klar war, es würde nie besänftigt werden. Eine Universitätsstudentin sagte, dass sie seit ihrem vierzehnten Lebensjahr auf ein großes Ereignis gewartet habe, das es nie gab. (Wäre es sexueller Natur, wäre es nicht unbekannt.) Ein Student schrieb seinen Eltern, dass er sein drittes Collegejahr mochte, jedoch eines Nachts von der „kalten Hand des Schreckens, die nach seinem Herz griff“ erwachte. Er berichtete, dass er, seit er ungefähr vierzehn war, das Gefühl hatte, etwas Ungeheuerliches würde geschehen. Mit 21 hatte er sieben Jahre gewartet, ohne dass etwas passiert war. Stell dir vor, er wachte in jener Nacht auf, nie geschieht etwas, und er fragt sich: ’und ich werde noch nicht einmal wissen, was es gewesen sein soll?’; das stürzte ihn in Verzweiflung.“9

Als ich dies meinem Bruder John vorlas, antwortete er: „Stimmt, und eines Tages denkst du dann: ’Hey, ich bin jetzt 28... ich glaube, es ist schon geschehen’“. Und so leben wir mit einer inneren Leere, einem Unbefriedigtsein, das vom inneren Wissen herrührt, dass da mehr sein sollte.

Es ist kein Zufall, dass die Charakterzüge des prä-transzendenten Jugendlichen genau mit der Betrachtung der Welt im Sinne von Newtons Weltmaschine übereinstimmt, die sich auf unser Selbstverständnis als getrennte Subjekte gründet. Dass unsere Entwicklung in der analytischen Ego-Phase festgehalten wird, ist für die Aufrechterhaltung der uns bekannten Gesellschaft, für die Aufrechterhaltung der Welt unter Kontrolle notwendig. Das hat zum Glück zur Folge, dass das Ende der Welt des Eigentums, der Entfremdung und der Kontrolle mit dem Ende aller sozialen und ideologischen Bedingungen zusammentreffen wird, die unsere Transzendenz verhindern. Das ist bereits jetzt der Fall; die Technologien der Wiedervereinigung entwickeln Eigendynamik. Selbst wenn du kein Jugendlicher mehr bist, ist es nicht zu spät. Es gibt immer mehr Transzendenz-Vorbilder; unsere Fähigkeiten mögen schlafend und tief begraben liegen, aber sie sind nicht tot. Es braucht lediglich das Äquivalent einer Volljährigkeitszeremonie, das Bröckeln der vorpubertären Welt des eigenständigen und getrennten Selbst. Ohne weise Älteste, die solche eine Zeremonie durchführen, wird es die Welt für uns tun, einfach weil diese vorpubertäre Ego-Welt nicht haltbar ist. Sie ist genau wie unsere Gesellschaft auf die selben Prinzipien gegründet und schafft unvermeidlich sich zuspitzende Krisen, welche den Betrug zuletzt aufdecken werden.

Die gleiche Dynamik finden wir in der kollektiven Entwicklung der menschlichen Spezies. Nachdem wir die Welt des rationalen Ego-Selbst voll entwickelt haben – bis zum äußersten Extrem – balancieren wir am Rand der Transzendenz. Wir haben das Stadium abgeschlossen, in dem wir unsere Individuation als getrennte Wesen, als Kollektiv ausloten sollten, als Einheit „Mensch“, die von der Natur getrennt und verschieden ist. Wir mögen das große Leid beklagen, welches die Trennung erzeugt hat; aber aus anderem Blickwinkel werden wir einfach erwachsen. Der Individuationsprozess ist notwendig, damit wir unser wahres Selbst als Kollektiv, als Spezies entdecken.

Die ganze Kindheit hindurch bis in die Jugend ist es unsere Aufgabe, uns zu Individuen zu entwickeln und zu wachsen. Wir nehmen von unserer Mutter so viel wir brauchen, so viel sie geben kann, vielleicht dankbar, aber auch mit einer natürlichen, ungezwungenen Eigennützigkeit. Als Spezies sind wir so auch mit Mutter Erde umgegangen. Wir haben ihre Schätze als unser frei verfügbares Eigentum betrachtet, mit dem selben Gefühl der Berechtigung, mit dem ein Kind von seiner Mutter Nahrung verlangt. Und während wir das taten, haben wir als Spezies eine unabhängige Identität entwickelt, die sich nicht mehr von Mutter Erde, ihren Orten, Pflanzen und Tieren ableitete. In gewissem Sinne sind wir entwöhnt worden.10

Bei normaler Entwicklung tritt der Jugendliche in wahres Erwachsensein ein und nimmt nicht mehr eigennützig von seiner Mutter. In unserer Gesellschaft mit ihrem Mangel an Ritualen des Erwachsenwerdens sehen wir die Jugend oft um Jahre und Jahrzehnte ausgedehnt, wo wir sonst erwachsen wären. (Wie verhältst du dich, wenn du heimgehst, um deine Eltern zu besuchen?) Das ist ein abnormaler Zustand. Mit unseren späten Teen- oder frühen Twen-Jahren sollten wir unabhängig von unseren biologischen Eltern geworden sein und dann, weil wir ihnen helfen wollen, das Anspruchsdenken der Kindheit ablegen.

Dann ist es Zeit, eine Wende zu vollziehen und die Mutter zu ehren und zu schützen, die uns, damit wir wachsen können, bis an den Rand ihres Zusammenbruchs versorgt hat. Eine Mutter wird natürlich auch weiterhin geben, selbst über ihre Möglichkeiten hinaus. So wie die Erde heute.

Worin besteht nun dieses Mündigkeitsritual für die menschliche Spezies? Was heißt Initiation ins Erwachsensein? Rituale des Erwachsenwerdens variieren von Kultur zu Kultur, aber sie haben das gemeinsame Ziel der Transzendierung des kindlichen Selbstbilds, des individuierten Ego, das getrennt, objektiv, rational, gewinnmaximierend, gefräßig ist und wächst. Genau wie die moderne Wirtschaft. Diese Funktionen der niederen Chakren oder des limbischen und zerebralen Cortex sollen nicht aufgegeben werden, sondern in eine höhere Ordnung integriert werden, wo sie eine Funktion im größeren Ganzen erfüllen: beim Clan, beim Stamm, im Dorf, im Wald. Damit dies eintritt, muss die kindliche Selbst-Definition vorübergehend erschüttert oder aufgehoben werden. Der Jugendliche wird deshalb einer ihm unbekannten Situation ausgesetzt, auf die das alte Selbstverständnis und das bisherige Weltbild nicht passen.

Und nun hat die Volljährigkeitszeremonie der menschlichen Spezies begonnen. Eigentlich ist sie seit Jahrhunderten vorbereitet worden, und zwar durch die große Welle der Gewalt und des Leidens in der Geschichte, die den Aufstieg der Menschheit, unsere Getrenntheit, unser Kontrollrogramm begleitet hat. Man kann das Ereignis nicht an Raum oder Zeit festmachen, aber es wird jedes Volk, jede Nation, jedes Individuum auf einzigartige Weise ereilen. Gegenwärtig bildet sich jedoch eine kritische Masse, die die Welt für viele Menschen gleichzeitig bröckeln lässt, im Zeitraum weniger Jahre oder Jahrzehnte. Dann wird die Möglichkeit zu spiritueller Transzendenz, die unser aller Geburtsrecht ist, wieder die Regel statt die Ausnahme sein. Dann wird das Zeitalter der Wiedervereinigung begonnen haben. Dann werden wir einander, die Tiere, die Bäume und den Planeten betrachten und keine Konkurrenten oder Ressourcen oder Andersartigkeiten sehen, sondern Erweiterungen unser selbst. Wir werden eine Welt erleben, die vollständig heilig, mit Kreativität schwanger, bedeutungsvoll und von Geist erfüllt ist. Wir werden das Leben und die Welt lieben und in Bescheidenheit an der gemeinsamen Schaffung von Schönheit teilhaben. Was wir bereits jetzt tun. Aber bald wird es in wachem Bewusstsein geschehen. Wenn unsere Individuation abgeschlossen ist, werden wir uns mit der Natur in vollwertiger Partnerschaft vereinen.

6 Unterscheide dies jedoch sorgfältig von kommerzialisierter Spiritualität, dem Versuch, die Lehren diverser spiritueller Traditionen zu vermarkten und diese Form kulturellen oder spirituellen Kapitals so in noch mehr Geld zu verwandeln. Das „Wissen“, von dem ich hier spreche, kommt nicht in Form von Informationen, Geheimlehren oder ähnlichem. Es handelt sich um eine Daseinsweise.

7 Vernor Vinge: Ein Feuer auf der Tiefe (1992/95). Leicht verständliches Portrait der emergenten Natur der Intelligenz; auch als Erzählung großartig.

8 Zitat aus dem Film: Matrix (1999)

9 Joseph Chilton Pearce: Evolution’s End. HarperCollings, 1992. S. 190

10 Natürlich sind wir noch nicht an dem Punkt angekommen, an dem wir materiell völlig unabhängig von Mutter Erde sind, noch nicht mal näherungsweise - und werden es wahrscheinlich nie sein. Unsere Abhängigkeit von den geophysikalischen und organischen Prozessen Gaias ist weitaus größer, als sich die meisten Leute vorstellen. Wir sind etwa weit von der Herstellung einer künstlichen Atmosphäre entfernt, die menschliches Leben unterstützt. Auch synthetische Nahrung steht noch nicht zur Verfügung. Ein Großteil unserer technikbasierten Unabhängigkeit von der Natur ist in Wahrheit illusorisch, besonders wo es um Nahrungsversorgung geht. Doch eine solche Unabhängigkeit ist keine Voraussetzung für das Erwachsensein, so wie auch von der Stammesjugend nicht erwartet wird, unabhängig vom Stamm zu leben. Der Hauptunterschied ist eine gewandelte Einstellung: weg von „Es ist da, damit ich es mir nehme“, hin zu „Es ist da, damit wir es respektieren.“
Vielleicht werden wir eines Tages von Mutter Erde unabhängig werden; wie in einem Science-Fiction-Szenario mit raumkreuzenden Biosphären und auf Computer transferiertem Bewusstsein; oder alternativ vergeistigt wie in einer New-Age-Vision, wobei wir unsere körperlichen Bedürfnisse oder sogar den Körper selbst ablegen, um in einer reinen Geistsphäre zu leben. Aber ich vermute, dass, selbst wenn solche Szenarien eintreten sollten, dies keine Flucht vor dem von uns ruinierten Planeten sein wird, sondern eine Befruchtung der geheilten und mit Leben erfüllten Erde, die in die nächste Phase ihrer Entwicklung tritt.

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1998-2011 Charles Eisenstein