Der Aufstieg der Menschheit von Charles Eisenstein

Über die große Krise unserer Zivilisation und die Geburt eines neuen Zeitalters

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Inhaltsverzeichnis:


Spiel im Schatten des Turms

Mit der Reduzierung der Wirklichkeit auf Zahlen und Namen und mit dem Programm zur Aneignung und Kontrolle der Welt haben wir einen babylonischen Turm errichtet; wir versuchen, mit unseren endlichen Werkzeugen das Unendliche im Sturm zu nehmen. Um es zu erreichen, haben wir uns so sehr spezialisiert und abgetrennt und die Welt so sehr reduziert und ausgelaugt, dass der Zusammenhalt der riesigen Megamaschine gefährdet ist, die unseren Aufstieg in den Himmel möglich machen sollte. Unsere Kontrollwerkzeuge sind unzureichend, um das Chaos zu meistern, das wir losgetreten haben. Unser Aufstieg, sogar die Illusion unseres Aufstiegs, verlangsamt sich bis zum Stillstand, während der Aufwand, das alles zusammenzuhalten, fortwährend wächst, bis er sämtliche Ressourcen auffrisst. Nun, da der Turm unter seinem eigenen Gewicht wankt, nun, da jeder Versuch seine bröckelnden Stockwerke abzustützen zur Instabilität des gesamten Gebäudes beiträgt, sehen wir inmitten der Ruinen unserer Zivilisation vielleicht klarer, welches unsere lang ersehnte kollektive Bestimmung ist.

Die größte Ironie unserer babylonischen Jagd nach Erreichung des Unendlichen mit endlichen Mitteln ist, dass wir tatsächlich genau das Gegenteil durchsetzen. Wir lösen alles Unendliche, Heilige und Einzigartige auf, um es in Endliches, Kontrolliertes, Generisches, Normiertes und Messbares zu verwandeln. Denk an die auf Möbel, Besitztümer und letztendlich Geld reduzierten Mammutbaumwälder; Zahlen in einem Computer. Wir verflüssigen die Erde, verkaufen unser Leben, reduzieren die Wirklichkeit auf Daten. Bald wird es nichts mehr umzuwandeln geben, da alles soziale, kulturelle, natürliche und spirituelle Kapital ausgebeutet ist.

Der Turm wankt. Einst hat er die Avantgarde in die glorreiche Eroberung der Natur geführt; Wissenschaft und Technik – und das ganze Management- und Kontrollregiment – sind nun im immer hoffnungsloseren Versuch gebunden, die Dinge einfach nur zusammenzuhalten. Da wir uns von der Natur, von Ganzheitlichkeit und damit vom Gesunden abgeschnitten haben, versuchen wir wie rasend, die Konsequenzen durch eine technologische Verbesserung nach der anderen in den Griff zu bekommen. Wie ein Süchtiger, der versucht sein Leben zusammenzuhalten, schulden wir um, rationalisieren und erzeugen Langzeitfolgen, um akute Probleme zu lösen, derweil geben wir vor, alles sei unter Kontrolle. „Die Wissenschaft wird eine Lösung finden“, glauben wir, während wir den Missstand verwalten, indem wir ihn auf einen künftigen Tag der Abrechnung verschieben.

Wie das zunehmend unbewältigbare Leben des Süchtigen sind solche Bemühungen dazu verurteilt, zuletzt völlig zusammenzubrechen und uns mit der Erkenntnis zu konfrontieren, dass wir nur geheilt werden können, wenn wir die ganze Denkweise der Kontrolle aufgeben, wie sie den bestehenden Technik-, Wissenschafts-, Gesundheits-, Geld-, Besitz- und Bildungssystemen innewohnen. An diesem Punkt werden wir uns der Heilkraft der Natur, des Wilden und der inhärenten Bestimmung des Universums öffnen, der Wohltätigkeit und Fruchtbarkeit von etwas jenseits rationalen Verstehens und der Kontrolle. Etwas, das größer ist als unser Selbst, wie wir es verstanden haben.

Auf einer Ebene bedeutet das, unsere industriellen, sozialen, erzieherischen und wirtschaftlichen Prozesse denen der Natur nachzubilden und die Maschinen- oder Computer-Metapher durch eine des Ökosystems zu ersetzen, wo es keinen Abfall gibt, der nicht auch Nahrung darstellt, keinen Ort „außerhalb“, keine zentralisierte Organisation, sondern wo jeder Teil sich auf alle anderen stützt und wov jene die Erfolgreichsten sind, die ihre Funktion bei der Stillung der Bedürfnisse der Gesamtheit am besten erfüllen.

Darüber hinaus kann uns die Natur auch als Modell für eine Schöpfung dienen, die nicht die Reduzierung des Lebens und der Welt nach sich zieht. Ich denke schon lange, dass die Fehlschläge der Umweltbewegung von ihrem Versäumnis herrühren, etwas Positiveres als „Nachhaltigkeit“ zu artikulieren. Die schöpferischen Gaben der Menschheit – Kultur und Technik – die uns dazu befähigt haben, so viel zu zerstören, werden verständlicherweise bloß als Geißel gesehen, die man unter Kontrolle halten muss. „Kann das Geschenk der Technologie und der Kultur auf irgend eine Weise vom Fluch getrennt werden? “, fragte ich in der Einleitung. Liegt die Erlösung der Menschheit in der Verleugnung des eigentlichen Wesens unserer Art? Mein Herz sagt nein, aber lange Zeit konnte ich keine andere Möglichkeit sehen. Nun endlich kann ich mir eine mehr als nachhaltige Zukunft vorstellen, die den überschäumenden Ausdrucksformen jener Gaben eine Heimat bietet, die uns zu Menschen machen. Wie der eingeborene Künstler, der seine Arbeit als das Enthüllen einer bereits im Rohblock enthaltenen Form verstand, so können wir uns kollektiv als ein Agens der fortschreitenden Selbstenthüllung der Natur betrachten. Wir werden nicht länger aufzwingen, sondern entdecken und enthüllen. Zur Natur zurückzukehren bringt nicht Passivität, nicht die Unterlassung kreativer Bemühungen. Wir sind kreative Wesen, die „nach dem Bild des Schöpfers“ gemacht worden sind, sagt man; Teil der Natur, die nichts anderes ist als die Schöpferkraft selbst. Wir brauchen die Natur nicht mehr als passives Trägermaterial für die Kunst eines externen Schöpfers zu betrachten, und auch nicht als inhaltsloses, beliebiges Ergebnis zufällig wirkender Kräfte. Wenn wir über die Natur nachdenken, wie sie wirklich ist – unendlich kreativ bei der Erfindung neuer Formen und Systeme der Schönheit – werden wir verstehen, dass unsere höchste Bestimmung ebenfalls die Herausarbeitung versteckter Schönheit ist. Natürlich haben wir das seit Jahrtausenden bereits getan. Neben Zerstörung hat uns Technik auch neue Wege kreativen Ausdrucks geebnet, die vor ein paar Jahrhunderten noch undenkbar gewesen wären. Der Unterschied ist, dass dies bald ganz bewusst unsere gemeinsame Bestimmung sein wird. Die Kräfte, die uns heute dazu drängen, uns zu „verkaufen“, werden zusammen mit der Illusion von Getrenntheit verschwinden, die ihnen Vorschub leistet. An ihre Stelle werden jene neuen Kräfte der Zivilisation der Wiedervereinigung treten, die Ganzheitlichkeit, Schönheit, Nachhaltigkeit, Entdeckerfreude und Kunst belohnen. Befreit von der Furcht, die mit der Bewältigungs- und Kontroll-Mentalität einhergeht, werden wir ebenfalls frei sein, Schönheit zu erschaffen statt sie der scheinbaren Notwendigkeit des Überlebens zu opfern.

Die menschlichen Gaben, die uns befähigt haben, den Planeten an den Rand der Katastrophe zu bringen, sind nicht an sich böse, dämonische Kräfte, die man zurückweisen muss, sondern eigentlich heilige Mittel, um die Erschaffung von Schönheit auf eine neue Ebene zu heben. Das Problem ist, dass wir sie nicht als heilig respektiert haben. Wir haben unsere Gaben prostituiert. Wir waren in der Illusion gefangen, dass es ihre Bestimmung war, uns Bequemlichkeit, Sicherheit und Spaß zu verschaffen; was sich von der Idee herleitete, dass es keinen anderen Lebenszweck gebe als das Überleben; dies leitet sich ab aus unserer tief verinnerlichten Newtonschen Seinslehre, die wiederum nur ein zugespitzter Ausdruck von Getrenntheit ist.

Wenn ich behaupte, dass es die Bestimmung der Technik sei, die Natur und die Schaffung von Schönheit auf eine neue Ebene zu heben, gebe ich nicht die verbreitete Ansicht wieder, dass es nun, da die Techik im Grunde das Überlebensproblem gelöst hat, Zeit wäre, die materialistische Zerstörungsspirale anzuhalten und unsere Aufmerksamkeit der Kunst, Musik, Literatur, reiner Wissenschaft und ästhetischem Genuss zuzuwenden; dass es mit anderen Worten Zeit wäre, sich zur Ruhe zu setzen. Diese Ansicht geht mindestens bis aufs Kohlezeitalter zurück, als das schreckliche Leid der Industriearbeiter mit der Begründung gerechtfertigt wurde, es wäre ein vorübergehendes Opfer, notwendig für die Einleitung eines Goldenen Zeitalters des Überflusses. Nun, glaubt man, ist es gekommen – oder zumindest könnte es kommen, wenn wir nur nicht so gierig wären, Billionen Dollar in Waffen steckten, das Wirtschaftssystem nicht so unausgewogen wäre. Diese Ansicht ignoriert die Tatsache, dass es nie ein „Überlebensproblem“ gab. Das Zeitalter des Überflusses ist nicht die Frucht der Technik; es war Technologie, die uns vom Überfluss fort in eine Welt der Angst, Knappheit und Entfremdung geführt hat. Doch wenn sich die Fehlauffassung vom Selbst und der Welt, die unserer Technologie zugrunde liegt, sich änderte, so änderte sich mit ihr die Rolle von Technologie als Kraft der Trennung.

Die Schaffung von Schönheit, über die ich spreche, ist nicht auf herkömmliche ästhetische Künste begrenzt, die, in ihren Museen eingepfärcht, eine Angelegenheit fern des Lebens geworden sind. Jeder industrielle Prozess, jede soziale Einrichtung, jede Beziehung in unserem Leben ist ein geeignetes Objekt unserer Kunst. Wenn sich die Menschheit der Kunst zuwendet, wird das nicht das Hobby eines Pensionärs sein, sondern die Verschmelzung von Leben und Kunst, Kunst und Arbeit, Arbeit und Spiel.

Statt uns auf das Überleben zu konzentrieren („unseren Lebensunterhalt zu verdienen“), wird unsere Interaktion mit der Welt ein Spiel sein. Immerhin ist es unsere Bestimmung zu verstehen, zu schätzen und daran teilzuhaben, was die Natur fortgesetzt an neuen Bereichen der Schönheit erschafft. Aber wie tun wir das? Natürlich durch das Spiel. Lernt nicht ein Kind so, die Welt „zu verstehen, zu schätzen und an ihr teilzuhaben“? In gewisser Weise war der gesamte Verlauf der Trennung nichts weiter als ein kosmisches Spiel. Der Unterschied wird sein, dass wir nicht länger den roten Faden verloren und die illusorische Natur der Getrenntheit vergessen haben werden. In diesem Bewusstsein wird unser Spiel wieder spielerisch werden.

Die Parallele zum Bewusstsein des Geschichtenerzählers (Kapitel VII) tritt deutlich hervor. Tatsächlich sind Spiel und Erzählung eng verbunden. Spiel ist die Aufführung einer Geschichte, einer provisorischen Wirklichkeit mit ihren eigenen Regeln und Übereinkünften. Wenn wir bewusste Schöpfer unserer Geschichten werden, werden wir auch bewusste Spieler im kosmischen Spiel sein. Die ganzen Ausrüstungsgegenstände des getrennten menschlichen Bereichs – Bezeichnung und Zahl, Bilder und Maschinen, Technik und Kultur – werden zu Spielzeug und zu Instrumenten unserer Kunst. Wenn wir uns nicht mehr unbewusst im getrennten menschlichen Bereich verlieren, sind wir frei für eine Wiedervereinigung mit dem Natürlichen. Wir vereinen seine Linearität mit dem restlichen Kreislauf, von dem wir ihn abzutrennen versuchten. Wir vereinigen Symbole und Geschichten wieder mit unseren bewusst kreativen Absichten. Wir vereinigen Technologie wieder mit den Bestimmungen und Prozessen der Natur. Wenn wir unsere Gaben nun bewusst anwenden, können wir einen menschlichen Bereich schaffen, der nicht mehr mit dem natürlichen konkurriert.

Wiedervereinigung mit der Natur, eine Neukonzeption von Selbst und Welt, mag wie ein unerreichbares Ideal klingen, aber eigentlich liegt seine Erreichbarkeit genau wie die Natur in jedem Moment sehr nah. Ein chinesisches Sprichwort sagt: „So fern wie der Horizont und doch genau unter deiner Nase“. Einerseits können wir nirgendwo auf dem Planeten, egal wie weit wir reisen, noch unverfälschte, ungestörte „Natur“ finden. Es gibt kein Entkommen vor den Chemikalien, Lichtern und all den anderen Zeichen der Technologie. Alle Ökosysteme sind gestört. Außerdem nehmen wir uns selbst, unsere Gedanken und unser Wesen überallhin mit, wohin wir gehen, und durch unsere bloße Präsenz als Gäste aus der Zivilisation verfälschen wir die Reinheit unseres Aufenthaltsorts. Wie der sprichwörtliche Horizont weicht die unverfälschte Natur zurück, wenn wir uns ihr nähern.

Andererseits liegt die Natur genau vor unserer Nase, in uns und überall um uns herum. Sie weicht nur zurück, wenn wir sie bei unserer Annäherung als etwas von uns selbst Getrenntes wahrnehmen. Ich nehme an, wir könnten die Wiedervereinigung der menschlichen und natürlichen Sphären erreichen, wenn wir willentlich der Technologie abschwören und in die Steinzeit zurückkehren. Aber ich fürchte, dass der ersehnte Zustand der Reinheit vor uns zurückweichen würde wie der Horizont im Sprichwort. Die Ursprünge der Trennung reichen bis vor die Steinzeit zurück. Sollen wir die Diktatur der Eukaryoten stürzen? Zum Glück ist das unnötig. Eine Rückkehr zur Natur, meint das Sprichwort, ist so einfach wie eine Änderung der Sichtweise. Ich möchte dieses Buch damit abschließen, ein paar Gedanken zur Wiedervereinigung der menschlichen und natürlichen Bereiche auf individueller Ebene anzubieten.

Zur Natur zurückzukehren kann einfach das Krabbeln auf Händen und Füßen sein, um für ein paar Minuten am Löwenzahn zu schnüffeln. Die Heilkraft selbst dieser winzigen Handlung ist erstaunlich. Egal wie sehr du zweifelst und wie sehr es die Logik abstreitet, wird das Riechen am Löwenzahn nur um der Erfahrung willen, das Beobachten eines Käfers, nur um zu sehen, was er tut, das Betrachten der Wolken für fünf Minuten einen merklichen Effekt haben. Tom Brown Jr. sagt: „Ein fünfminütiger Spaziergang über ein verlassenes Grundstück oder durch den Park wird heilende Qualitäten zeigen. Man kann mehr sehen und fühlen und darum seine Lebendigkeit erkennen.“ Es mag abgedroschen klingen, aber selbst die gewöhnlichsten Mittel „sich wieder mit der Natur zu verbinden“ können die Illusion von Getrenntheit abtragen, die so viel einfacher aufrechtzuerhalten ist, wenn wir in unseren Häusern, Autos und Computern gefangen sind.

Auch unser Körper ist Natur. Die Cartesische Geist-Körper-Spaltung, die das Selbst vom Körper trennt, kann durch diverse Praktiken geheilt werden, welche die Spaltung experimentell ad absurdum führt. Yoga, Taichi, Kampfkünste, Feldenkrais-Methode, Authentische Bewegung, Contact Improv, Continuum und einige Formen der Handauflegung können uns enthüllen, dass der Körper ein Aspekt des Geistes ist und der Geist ein Aspekt des Körpers.

Werden aber Yogastunden oder mehr Parkspaziergänge den Planeten heilen? Sicher nicht... es sei denn, dass solche kleinen Veränderungen – zunächst unbemerkt – anfangen, die Getrenntheitsillusion anzugreifen. Der Prozess der Wiedervereinigung beginnt beim Einzelnen mit anhaltender Unruhe, bevor er zu einer ausgewachsenen Zuspitzung der Krisen explodiert. Da ist das Gefühl, dass etwas am Leben und der Welt nicht ganz stimmen kann, und dieses Gefühl allein kann eine Krise bei einfühlsamen Menschen auslösen. Job, Pläne und Lebensweise ergeben angesichts der aufdämmernden Wahrheit keinen Sinn mehr. Schließlich durchlaufen alle Aspekte des Lebens eine gründliche Transformation.

Viele Bücher über Umwelt- und Sozialkrisen haben nichts als Verzweiflung anzubieten. Entweder heißt es: „Diese Probleme sind zu groß, als dass du irgend etwas unternehmen könntest“ oder es werden lauwarme Trostpflaster empfohlen: „grüne“ Produkte einzukaufen und seine Bierdosen zu recyceln. In gewisser Weise ist die Verzweiflung gerechtfertigt. Jeder weiß, dass deine Einzelaktion nichts im Vergleich zu den kolossalen Kräften ist, die unerbittlich den Planeten zerstören, selbst wenn du deinen ökologischen Fußabdruck auf Null reduzierst. Ein Leben, das in vollem Bewusstsein der tragischen Lage der Menschheit Sinn ergibt, kann nicht durch Wechsel der Marke oder den Kauf eines Zen-Meditationsbaukastens erreicht werden. Wir werden schließlich erkennen, dass Transformation den Lebenskern erreichen muss, zentrale Bereiche von Beziehung und Arbeit. Schrittweise werden spirituelle Erkenntnisse sich auf die materielle Welt auswirken. Die Verzweiflung kommt mit der Erkenntnis, dass das uns vertraute Leben nicht weitergehen kann. Wenn diese Erkenntnis unbewusst vorhanden ist – ohne Grund – dann wird das Unterbewusstsein eine Krise erzeugen, welche die Geburt in eine neue Lebensphase antreibt.

Mit dieser Kern-Transformation rühren wir an eine Kraft, welche die oben erwähnte Verzweiflung irrelevant macht. Auch hier haben wir eine „Rückkehr zur Natur“, aber auf subtilerer und grundlegenderer Ebene als die ersten Schritte des Wiederverbindens vom Körper mit dem Außen. Sie entspricht dem Hauptthema dieses Buches: Transformation statt Aufgabe des getrennten menschlichen Bereichs, so dass er nicht länger unnatürlich bleibt. Auf individueller Ebene geschieht dies durch die Kraft des Wortes, das Bewusstsein des Geschichtenerzählers und das Leben im Geschenk. Diese ermöglichen es uns, unser volles Potential als Weltgestalter zu erkennen. Kein Zufall, dass diese Konzepte in sich beinah alle großen spirituellen Lehren der Welt enthalten: Nicht-Anhaftung, Liebe und das Öffnen für etwas jenseits unseres getrennten Selbst. Die Natur ist in diesen Dingen noch stärker vertreten, als im Außen oder im Körper. Leben im Geschenk: das Wiedereintreten in den ökologischen Kreislauf, wo Bestimmung in der Erfüllung unserer Rolle und Funktion in einem stets gedeihenden, stets sich wandelnden Ganzen liegt. Bewusstsein des Geschichtenerzählers: die Annahme einer bewussten Rolle im fortlaufenden Spiel des Universums mit der Selbst-Erschaffung.

Die Rückkehr zur Natur befreit uns nicht nur von den Ketten der Existenzangst und lehrt uns unsere Bestimmung als Schöpfer von Schönheit – als Künstler – sie lehrt uns auch, wie man diese Schönheit am besten erschafft. Indem man das Große Ganze beobachtet, das größer als alles ist, was das getrennte Selbst ersinnen könnte, werden wir uns der einzigartigen Rolle bewusst, die wir in diesem Ganzen zu spielen haben. Dieses Verständnis entsteht durch die einfache Tatsache, dass wir Teil dieses Ganzen sind. Es ist nicht von uns verschieden. Wenn wir die Natur beobachten, beobachten wir uns selbst; wenn wir etwas über die Natur lernen, lernen wir etwas über uns selbst. Die Funktion des „Ich“, dieses provisorischen selbstbewussten Teils des Ganzen, wird offensichtlich.

Früher oder später werden aufgrund einer inneren oder äußeren Krise die normalen Leben, wie wir sie kennen, enden; das verrückte Wettrennen der Technik- und Selbstverbesserung scheint ständig neue Wege zu finden, die sogenannte Normalität noch etwas länger aufrechtzuerhalten. Selten wird erkannt, dass Normalität die Wurzel des Problems ist und die Saat des eigenen Untergangs in sich trägt. Sie kann nur mit dauerndem und wachsenden Leid aufrechterhalten werden – genau jenes Leid, das nun unsere Welt auffrisst. Auch wird selten erkannt, dass die Normalität, selbst wenn sie haltbar wäre, der Erhaltung nicht wert ist. Wir sind in enorm verarmte Leben hineingewachsen. Und doch bleibt eine verborgene Erinnerung an ein Leben, wie es sein könnte und sollte, eine Erinnerung, die manchmal in wachen Augenblicken der Freude und Verbundenheit an die Oberfläche kommt. Ich spreche zu dieser Erinnerung und diesem Wissen. Ich möchte mich selbst und jeden erinnern, dass eine weit schönere Welt und ein besseres Leben möglich sind, und dass diese Möglichkeit eine Revolution des menschlichen Seins verlangt. Der Ruf ist dringend. Führe ein Leben, das Sinn im Licht aller Wahrheiten ergibt, zu denen du erwachst. Die soziale und planetare Krise, die Illusion der Getrenntheit, die Unbeständigkeit deines eigenständigen und getrennten Selbst, die Zwecklosigkeit des Programms unbegrenzter Kontrolle, der Raub unseres spirituellen Kapitals, die Reduzierung der Welt auf Geld, der Ausverkauf von Zeit und Leben... und wozu?

Alles was wir tun können und müssen ist ein Leben zu führen, das Sinn ergibt. Die Gefahr ist, dass wir selbst nach Erkennen dieser Wahrheit weiterhin einer Illusion hinterherlaufen. Alte Gewohnheiten sind schwer zu ändern. Eine Redewendung sagt: „Wahrheit befreit“. Nichts weiter wird gebraucht. Nichts weniger wird genügen. Äonen des Strebens nach Überwindung der menschlichen Natur sind vorbei. Nun lernen wir, dass wir nur mehr wir selbst sein müssen. Teil der kommenden Ganzheitlichkeit, die ich als Zeitalter der Wiedervereinigung beschrieben habe, besteht darin, nicht mehr Teile der Welt und Teile unser selbst zu verstecken, deren Existenz das normale Leben unführbar macht. Wir werden den verwundeten Planeten nicht heilen und keiner lebenden Seele helfen, indem wir uns selbst verleugnen. Ganz im Gegenteil: Die Verleugnung unserer wahren Natur – die Getrenntheit davon, wer wir sind – hat überhaupt erst die gegenwärtigen Krisen erzeugt. Jahrhundertelang lautete die Botschaft, wir müssten weniger sein; die menschliche Natur durch Selbstdisziplin zu überwinden, so wie wir die restliche Natur durch Technologie überwinden. Heute jedoch ist das Selbst- und Weltbild, auf das sich die Kontrollideologie gründet, überflüssig. Der Krieg gegen die Natur und die menschliche Natur ist vorbei. Es ist Zeit, unser wahres Selbst und auch unsere göttliche Bestimmung in der natürlichen Evolution zur nächsten Ebene der Schönheit anzunehmen.

Hierin liegen Selbstakzeptanz und Selbstvertrauen, über die ich Eingangs des Kapitels gesprochen habe. Diese führen nicht zu zerstörerischer, engstirniger Gier des eigenständigen und getrennten Selbst, denn das ist nicht unsere wahre Natur. Letztendlich ist es der Pfad der Selbst-Liebe, der uns notwendigerweise wieder in die Welt verliebt sein lässt. Dieser Pfad ist nicht schmerzfrei; tatsächlich enthält er allen Schmerz der Welt. Doch jenseits von Schmerz und Traurigkeit liegen Verstehen und Ganzheitlichkeit und darum Freiheit. Wenn man die traurige Wahrheit einbezieht, was wir aus dem Leben und der Welt gemacht haben, die traurige Wahrheit unserer jahrtausendelangen Reduzierung der Wirklichkeit auf Bezeichnung und Zahl, Geld und Besitz, gewinnen wir wieder einen Blick dafür, was wir sein können und sollten und tatsächlich sind. Wir fordern unser Geburtsrecht als ganzheitliche, kreative Wesen wieder ein, die das Leben lieben und vom Leben geliebt werden.

Die von uns gesuchte Unbegrenztheit ist bereits hier – und sie war es stets. Der Kollaps des Turms, der Welt unter Kontrolle, des Wettrennens um wissenschaftliche Sicherheit, deckt den Betrug auf, der uns für zehntausend Jahre versklavt hat. Doch müssen wir uns daran erinnern, dass auch dieser Betrug einen Sinn hatte. Wir müssen uns an die spielerischen Ursprünge der Trennung erinnern, dieses Erkundungsspiels, in dem wir uns verloren haben und von dem wir nun erwachen. Unser Wettrennen, unsere Reise zu den entferntesten Bereichen der Trennung ist nun beinahe abgeschlossen. Wie schwer die Geburtsschmerzen auch immer sein mögen, ein Licht leuchtet uns, eine Wiedervereinigung mit jenem Ort der Verzauberung, des Verstehens und der Ganzheitlichkeit. Lassen wir uns von jenem Licht durch die kommende Dunkelheit führen.

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1998-2011 Charles Eisenstein